Motiviert und mit einem wachsamen Auge für jede einzelne Kuh steht Björn auf der Weide der 100-köpfigen Kuhherde von Anne und Hubertus Homann. So wie die Kühe zum Betrieb am Ortsrand von Altenbüren (Hochsauerlandkreis) gehören, ist der 18-Jährige schon seit fast einem Jahr fest in der Familie integriert. Im August startet sein drittes Ausbildungsjahr zum Landwirtschaftsfachwerker im Berufsbildungswerk (BBW) Josefsheim Bigge. Diese Ausbildung richtet sich an beeinträchtige Menschen, die...
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Motiviert und mit einem wachsamen Auge für jede einzelne Kuh steht Björn auf der Weide der 100-köpfigen Kuhherde von Anne und Hubertus Homann. So wie die Kühe zum Betrieb am Ortsrand von Altenbüren (Hochsauerlandkreis) gehören, ist der 18-Jährige schon seit fast einem Jahr fest in der Familie integriert. Im August startet sein drittes Ausbildungsjahr zum Landwirtschaftsfachwerker im Berufsbildungswerk (BBW) Josefsheim Bigge. Diese Ausbildung richtet sich an beeinträchtige Menschen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Finanziert wird sie von der Bundesagentur für Arbeit.
Das Berufsbildungswerk Josefsheim Bigge
- Im BBW Bigge werden junge Menschen mit Behinderung in mehr als 30 Ausbildungsberufen qualifiziert.
- Zum Agrar-Ausbildungsbereich gehören Ausbildungen im Bereich Forst- und Landwirtschaft, Gartenbau und Floristik. Aktuell werden 20 Landwirtschaftsfachwerker ausgebildet.
- Die Agentur für Arbeit bewilligt den Förderstatus der BBW-Azubis und ist in den meisten Fällen auch Kostenträger.
- Das BBW Bigge arbeitet während der Ausbildung eng mit der Landwirtschaftskammer oder der Industrie- und Handelskammer (IHK) zusammen.
- Die Beschulung während der Ausbildungszeit findet im Heinrich-Sommer-Berufskolleg statt. Zusätzlich gibt es begleitende Hilfen wie Stütz- und Förderunterricht.
Lernen und Arbeiten
Für Björn ist das eine tolle Chance, seine Begeisterung für Kühe ausleben zu können und gleichzeitig einen Berufsabschluss zu erlangen. Und das obwohl er eine Lernschwäche hat. „Björn brennt für unseren Milchkuhbetrieb. Er hat ein Händchen für alles“ , lobt ihn Hubertus Homann. Er sei eine große Entlastung und man könne sich immer auf ihn verlassen. Der Milchkuhbetrieb von Hubertus Homann ist einer von insgesamt 20 Kooperationsbetrieben des BBW Josefsheim Bigge. Das Berufsbildungswerk unterstützt Menschen dabei, ihre Chancen und Möglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsleben zu verwirklichen. Wohnmöglichkeiten stellt die Einrichtung ebenfalls zur Verfügung. Pünktlich um 6.30 Uhr wird Björn in der Außenwohngruppe abgeholt und zum Hof gebracht. Zwei Tage in der Woche findet der Schul- sowie Stütz- und Förderunterricht statt. „Das Melken macht mir besonders viel Spaß“, sagt Björn und zeigt uns den Fischgräten-Melkstand. Dort beginnt sein Arbeitstag. Um 18:45 Uhr bringt der Fahrdienst des BBW Björn wieder zur Außenwohngruppe.
Björn kann auf dem Milchkuhbetrieb von Anne und Hubertus Homann seine Begeisterung für Kühe ausleben und gleichzeitig einen Berufsabschluss erlangen. Er ist fest in der Familie integriert.
(Bildquelle: Mühlinghaus)
Gemeinsam zum Erfolg
Routinearbeiten wie Melken oder Kälbertränken eignen sich laut Theresia Nüßlein, Ansprechpartnerin für soziale Landwirtschaft an der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL), sehr gut für beeinträchtigte Menschen. „Sind sie eingearbeitet, erledigen sie ihre Aufgaben in der Regel selbstständig“, bestätigt Hubertus Homann. Auch anspruchsvollere Aufgaben werden laut Hubertus Homann gut gemeistert. Störungen oder Ungeplantes können für Menschen mit Handicap allerdings eine große Herausforderung sein. Ein Beispiel dafür ist der Führerschein. Hier bekommt auch Björn besondere Unterstützung von Homanns und dem BBW.
Theresia Nüßlein
Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL)
Erfahrung und Offenheit
Der zeitliche Aufwand dafür sei hoch. Aber Homanns macht es Spaß, Björn in seiner Ausbildung zu begleiten. „Man braucht Geduld, Erfahrung und Offenheit“, erzählt er. Je mehr Fähigkeiten Björn lerne, desto größer sei der Nutzen für ihn selbst und auch für den Milchkuhbetrieb. Doch aus Erfahrung weiß der Milcherzeuger, dass der Umgang mit Fachwerkern sehr unterschiedlich ist. „Bei manchen Menschen fangen wir am Küchentisch an, da es hier am Benehmen mangelt“, betont der Milcherzeuger. Homanns müssen beispielsweise auch auf die regelmäßige Einnahme von Medikamenten achten.
Man braucht Geduld.
Hubertus Homann
Marvin´s Autismus-Spektrum-Störung reduziert sein Interesse an sozialen Kontakten. Mit Tieren kommt er dagegen sehr gut klar.
(Bildquelle: Mühlinghaus)
Kuhverstand
Auch der 24-jährige Marvin erfährt viel Unterstützung. Er hat ebenso seine Ausbildung im BBW Bigge und im Milchkuhbetrieb Homann absolviert. Heute arbeitet er auf dem Milchkuhbetrieb von Hubert Wiese. Dort übernimmt er Arbeiten wie das Melken mit der dazugehörigen Vor- und Nachbereitung, die Versorgung und Enthornung der Kälber, Vorbereitung der Fahrsilos zur Ernte, Festfahren oder Zäunen. Seine Autismus-Spektrum-Störung reduziert das Interesse an sozialen Kontakten. Mit Tieren kommt er dagegen sehr gut klar. Davon profitiert auch der Betrieb. „Kühe hören mir bei privaten Problemen zu“, erzählt Marvin und sucht seine Lieblingskuh „Bergziege“.
Kühe hören mir bei privaten Problemen zu.
Marvin
Er ist sehr auf Genauigkeit bedacht und sucht sich bei jedem Schritt durch den Stall neue Arbeit. Wenn sich aber zum Beispiel ein Kollege mal verspätet, beeinflusst dies negativ seinen Tag. „Als Arbeitgeber muss man solche Reaktionen einschätzen können“, weiß Hubert Wiese. Der 24-Jährige, der sich selbst als Macher bezeichnet, ist stolz auf seine Arbeitsbereiche und identifiziert sich damit. Hubert Wiese kann sich auch durchaus vorstellen, dass Marvin die Kühe auch bald selbstständig mit dem Selbstfahrer füttert. Den nötigen Führerschein hat er. Außerdem möchte Marvin gerne in Zukunft einen Klauenpflegekurs machen und sich eventuell im Pflanzenschutz weiterbilden. Marvin hat seinen idealen Arbeitsplatz gefunden. So geht es auch anderen Menschen, die eine Ausbildung als Fachwerker gemacht haben. „Für die meisten Menschen finden wir nach Beendigung der Ausbildung einen geeigneten Arbeitsplatz“, erzählt Carina Heimann vom Josefsheim Bigge. Sie und ihre Kollegen kümmern sich nicht nur während der Ausbildung um die angehenden Fachwerker, sondern unterstützen sie auch bei der beruflichen Eingliederung.
Egal ob Kühe oder Weidemann: Marvin weiß, was zu tun ist.
(Bildquelle: Mühlinghaus)
Wertvolle Arbeitskraft
Viele beeinträchtigte Menschen überzeugen durch ihre Motivation, fachliche Kompetenzen und Loyalität. Der individuelle Unterstützungsbedarf ist allerdings nicht zu unterschätzen. Zudem leistet die familiäre Bindung einen großen Beitrag zu einer erfolgreichen Inklusion. Passen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zwischenmenschlich nicht zusammen, ist die Integration zum Scheitern verurteilt. Ist die Einarbeitungsphase gut geplant und eingeschränkte Menschen haben eine feste Bezugsperson, kann die Integration auch auf Betrieben mit einer höheren Kuhzahl gelingen. Annika Timp, Fachberaterin für Inklusion für die Landwirtschaftskammer NRW, betont: „Milchkuhbetriebe sollten mehr über den Tellerrand hinausschauen und Menschen mit Behinderung als wertvolle Mitarbeiter integrieren.“ Vor allem angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels sei die Einstellung eines beeinträchtigten Menschen eine attraktive Lösung. Für Mensch und Tier! Bei Fragen zu rechtlichen Prozessen sollten sich Betriebsleiter laut Theresia Nüßlein Unterstützung bei der jeweiligen Fachberatung suchen. Je nach Bundesland sind die Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten unterschiedlich.
Annika Timp
Landwirtschaftskammer NRW
Milchkuhbetriebe sollten mehr über den Tellerrand hinausschauen und Menschen mit Behinderung als wertvolle Mitarbeiter integrieren.
Annika Timp
So gelingt Inklusion
Mit Betriebsleitern von Milchkuhbetrieben sprechen, die schon Menschen mit einer Beeinträchtigung eingestellt haben.
Kontakt zu Ausbildungsberatern und zur Fachberatung für Inklusion der LWK oder Ansprechpartnern des jeweils zuständigen Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten aufnehmen.
Zuständige der Berufsbildungswerke, Inklusionsvereine, Werkstätten für behinderte Menschen oder der Agentur für Arbeit ansprechen.
Ein kostenloses Beratungsangebot der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) wahrnehmen.
Offenheit, gegenseitiges Verständnis und Empathie.
Individuelle Bedürfnisse und Belastungsfähigkeit beachten; wichtig ist die Kommunikation.
Klar strukturierte sowie wiederkehrende Tätigkeiten anbieten und eine umfangreiche Einarbeitungsphase einplanen.
Beachtung eines besonderen Kündigungsschutzes sowie Gewährleistung von Zusatzurlaub.
Peter Werner
Milcherzeuger, Römerstein (Baden-Württemberg)
Organisation gefragt
Auch der 26-jährige Hannes hat ein Faible für Kühe. Er leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung, arbeitet und wohnt seit 2017 auf dem Milchkuhbetrieb Werner in Römerstein (Baden-Württemberg). Eine Ausbildung hat er nicht. Finanziert wird die Arbeit über verschiedene Träger. Der Verein für Sozialpsychiatrie e. V. (VSP) unterstützt das Wohnen. „Die Arbeitszeit haben wir an seine Belastbarkeit angepasst“, erzählt Betriebsleiter Peter Werner. Hannes holt z. B. selbstständig die Kühe zum Melken, reinigt und dippt die Zitzen oder säubert die Übergänge. Doch manche Dinge würden auch nach mehrmaligem Ausüben plötzlich schief laufen. Es muss immer eine Bezugsperson bei ihm sein. Hannes nimmt sich für jede der 180 Fleckviehkühe viel Zeit. „Er kennt die Kühe fast so gut wie ich. Vor allem beim Umstallen ist er eine große Hilfe.“ Er sei wie eine Leitkuh. Damit Inklusion gelingt, braucht es laut Peter Werner eine gute Organisation. So erstellt er für vier Wochen im Voraus einen Arbeitsplan für sein 10-köpfiges Team. „Neue Mitarbeiter informiere ich über den Umgang mit Hannes.“ Für den Fall, dass Mitarbeiter ausfallen, kann der Milcherzeuger auf „Springer“ zurückgreifen. Auch Hannes fällt öfter aus: Insgesamt 35 Urlaubstage stehen ihm zur Verfügung, dazu kommen bis zu 40 Krankheitstage und Therapiemaßnahmen. Der Milcherzeuger möchte Hannes als Person und wertvolle Arbeitskraft nicht missen. Hannes ist sich sicher: „Wir gehen zusammen in Rente.“
„Begleitetes Wohnen in Familien“
In den Landkreisen Reutlingen, Zollernalbkreis, Tübingen, Alb-Donau-Kreis und Sigmaringen (Baden-Württemberg) bietet der Verein für Sozialpsychiatrie e. V. (VSP) das sogenannte „Begleitete Wohnen in Familien“ (BWF) an. Menschen mit Behinderung wird es ermöglicht, in einer familiären Umgebung zu leben und individuell betreut zu werden. Gerade in landwirtschaftlichen Familien ist das BWF eine attraktive Lösung, um beeinträchtigte Menschen zu integrieren. Die Landwirtschaftsbetriebe selbst erhalten eine angemessene und steuerfreie Aufwandentschädigung.
Egal ob innerfamiliär gemolken wird oder mit Angestellten, in die Melkroutine schleichen sich oft Fehler ein. Ein Check der Routine und Melkerschulungen helfen.
Wer kümmert sich um die Kühe und den Betrieb, wenn der Betriebsleiter plötzlich ausfällt? Im schlimmsten Fall kann das den laufenden Betrieb lahmlegen. Tipps für die Vorsorge.