Weidemilch, Milch ohne Anbindehaltung, Alpenmilch, Faire Milch: Kaum eine Milchtüte im LEH steht noch ohne besondere Auslobung im Regal. Selbst die Handelsmarken des LEH sind seit Anfang April mit der jeweiligen Haltungsformstufe gekennzeichnet. So kann der Verbraucher heute beim Milchkauf seine jeweils ganz persönlichen, ganz spezifischen Ansprüche erfüllen.
Doch will er das überhaupt? Steigt der Verbraucher angesichts dieser Vielzahl an Labels überhaupt noch durch oder wird sich der Markt durch die herstellerübergreifende Kennzeichnung der Haltungsformen bereinigen? Und wie können sich Markenmilch-Molkereien künftig überhaupt noch absetzen? Über diese Fragen sprachen wir mit zwei renommierten Experten:
Prof. Dr. Thomas Vogler lehrt Handelsmanagement, Handelsmarketing und Handelscontrolling an der TH Ingolstadt.
Dr. Inga Ellen Kastens ist selbstständige Marken- und Kommunikationsberaterin aus Münster.
Elite: Anfang April hat der LEH auf Milchtüten die Haltungsformkennzeichnung in vier Stufen eingeführt. Finden Sie den Ansatz aus Sicht der Verbraucher gelungen?
Prof. Vogler: Ja, ein solches relativ einfaches, Händler-übergreifendes System war überfällig und löst die vielen „weichen“ Auslobungen, wie Weidemilch oder Alpenmilch, ab. Ob die Stufen nun die richtigen Inhalte repräsentieren oder nicht, kann ich zwar nicht sagen, aber sie werden dem Verbraucher bei der Einordung der Produkte sicherlich helfen. Vorausgesetzt, die Kennzeichnung dringt durch eine breite Aufklärungs-Offensive tief ins Bewusstsein der Verbraucher. In diesem Punkt vermisse ich allerdings die berufsständischen Verbände und die Molkereien. Wenn man Haltungsform-Kennzeichnung googelt, erhält man Internet-Seiten des LEH, aber keine Molkerei und keinen Bauernverband. Dieses Feld dürfen sie aber nicht dem LEH überlassen! Wer z.B. für Milch der Stufen 3 und 4 mehr Geld will, muss dem Verbraucher auch erklären, welchen Mehrwert er gegenüber Stufe 1 und 2 bietet. Ohne eine klare und dauerhafte Kommunikation geht das nicht.
Elite: „Weidemilch“ oder „ohne Anbindung“ sind doch eigentlich einfache, klar zu verstehende Botschaften. Warum ziehen sie dennoch nicht genug?
Prof. Vogler: Die bisherigen Siegel auf den Milchtüten dienen lediglich dem Marketing, das entlarvt der Verbraucher natürlich. Denn inhaltlich sagen sie wenig aus und lassen keine Einordnung zu, daher entscheidet am Regal oftmals einfach der Preis. Der ist für den Verbraucher die klarste Botschaft!
Dr. Kastens: Attribute, wie z.B. Weidemilch, ziehen den Verbraucher im ersten Moment schon an, aber die zahlreichen negativen Berichte aus der Fleisch- aber auch der Milchwirtschaft wirken bei ihm stärker nach, so dass letztlich der Preis entscheidet. Es ist einfach: Der Preis dominiert immer da, wo ich keine anderen Werte sehe. Hinzu kommt die Flut an Labels, die ihn mittlerweile frustriert. Unterschiede zwischen den Labels können nicht mehr wahrgenommen werden. Das Grundproblem ist aber, dass der durchschnittliche Verbraucher sehr wenig über die Milchwirtschaft weiß und auch nicht wissen will. Es fehlt ihm ein tieferes Wissensfundament, dadurch kann er zum Beispiel den Wert eines regionalen oder eines Bioproduktes gar nicht einschätzen. In der Markenpsychologie spricht man hier auch von einer Überkommunikation. Das heißt, es kursieren verschiedene Begriffe, aber keiner weiß, was sie wirklich für Mensch und Tier bedeuten. Es ist reine Oberflächenkosmetik.
Der Handel bestimmt, welche Siegel wahrgenommen werden.
Prof. Thomas Vogler
Elite: Können die Haltungsformkennzeichnung oder das staatliche Tierwohllabel dieses Dilemma nicht lösen?
Dr. Kastens: Nein, im Gegenteil. Sie treibt die bestehende Überkommunikation noch auf die Spitze. Die Heterogenität des Marktes wird erst recht gefördert, solide Konzepte gehen unter. Die Haltungsformkennzeichnung mit ihren vier Stufen ist aus meiner Sicht zu abstrakt und wirkt aus Sicht des Verbrauchers eher wie eine Kommunikation, die etwas vertuschen will. Vier Stufen werden der Vielfalt in der Landwirtschaft absolut nicht gerecht. Klar, brauchen wir ein einfaches System, aber das jetzige bleibt zu sehr an der Oberfläche. Ich befürchte zudem, dass die qualitativen Unterschiede zwischen den Stufen so gering sind, dass wir nicht auf das Preisniveau kommen, das wir dringend benötigen. Außerdem muss uns auch klar sein: Dem Verbraucher sind in seiner Einkaufsroutine die Argumente persönliche Attraktivität („Tut das Produkt etwas für mich?“, seine Gesundheit („Ist das Produkt wirklich gesund?“) sowie positive soziale Resonanz („Tu ich was Gutes und wird es wahrgenommen?“) wichtig. Das Tierwohl ist für ihn dagegen kein Hauptargument! Und auch die Nachhaltigkeit ist für ihn nachrangig: Der durchschnittliche Verbraucher steht für sich selbst am Ende des Einkaufstages in der Regel im Mittelpunkt.
Prof. Vogler: Ich vermute, dass das staatliche Tierwohllabel durch die starke Marktmacht der Discounter von der Haltungsformkennzeichnung, die der Handel angeschoben hat, verdrängt wird. Kein Produkt wird mehr ohne die Haltungsform auskommen, das wird der neue Standard. Ich vermute, dass auch die Handelsmarken – zumindest bei den höherwertigen Supermärkten – die Stufen 3 und 4 als Standard einführen. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir derzeit bereits beim Biosiegel oder auch bei der Lebensmittel-Ampel. Der Handel – und insbesondere die Discounter - bestimmt, welche Siegel wahrgenommen werden. Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass das staatliche Siegel einen Mehrwert bringen wird.
Elite: Können sich die Markenmolkereien künftig überhaupt noch abheben?
Dr. Kastens: Ob sich hochwertige Marken noch behaupten können, hängt davon ab, wie stark die Haltungsformkennzeichnung jetzt im Markt ausgebreitet wird und wie groß die Preisunterschiede sind. Fakt ist, die Haltungsformkennzeichnung birgt die Gefahr, die Identität der Marken – und der Landwirte – zu vernichten und Unterschiede zu nivellieren. Der Aufbau neuer Marken wird noch schwerer und teurer als er bisher war. Starke Identitäten wären exakt das, was wir derzeit als Parallelbewegung zu den standardisierenden Haltungskennzeichnungen bräuchten!
Elite: Und was wird aus Regional-Labels?
Prof. Vogler: Wenn eine regionale Molkerei ihre Produkte sichtbar im regionalen LEH listen kann, genießen sie beim Verbraucher durchaus Vertrauen und haben weiterhin gute Marktchancen. Das gleiche gilt auch für regionale Milch aus der Direktvermarktung. Hier gibt es noch Steigerungspotenzial – natürlich nur in räumlich begrenztem Rahmen. Aber beispielsweise bei einer Weihenstephaner Milch oder Bärenmarke, die im Rhein-Main-Gebiet verkauft wird, bringt die Region recht wenig.
Wir müssen weg von der alles schönredenden Werbesprache, hin zu einer echten Kommunikation mit Ecken und Kanten.
Dr. Inga Ellen Kastens
Elite: Zieht die regionale Herkunft nach wie vor mehr als Bio?
Prof. Vogler: Ja, regionale Produkte haben zwar weiterhin einen Vertrauensvorsprung. Der Verbraucher hinterfragt bio in letzter Zeit aber häufiger. Was ist das überhaupt? Die Herkunft des Produktes aus der Region kann der Verbraucher leichter überprüfen, als eine biologische Erzeugung.
Dr. Kastens: Beide Siegel, bio und regional, waren einmal sehr starke Zugpferde. Mittlerweile schreibt jeder „bio“ oder „regional“ auf seine Milch. Das erzeugt Ungläubigkeit und der Verbraucher nimmt faktisch keine Unterschiede mehr wahr. Warum soll er dann dafür mehr zahlen?
Elite: Wie kommen wir zukünftig weiter? Sehen Sie irgendeine Chance, beim Verbraucher mittelfristig ein Wissensfundament zur Milchwirtschaft aufzubauen?
Dr. Kastens: Der Verbraucher ist grundsätzlich informationsfaul. Alte Einkaufsroutinen zu verändern ist schwer. Wir wissen: Er könnte sich informieren, tut es aber nicht. Insbesondere bei Milch kauft er nach Gewohnheit ein und will sich nicht lange damit aufhalten. Die Lösung ist vielmehr, ihn intrinsisch mitzunehmen. Dazu müssen aber die Zeichen im Supermarkt –Produktverpackungen, Labels usw. – wieder deutlich mehr Bedeutung vermitteln. Kurz: Wir müssen weg von der alles schönredenden Werbesprache, hin zu einer echten Kommunikation mit Ecken und Kanten. Die Landwirtschaft braucht kaum etwas so dringend wie Glaubwürdigkeit! Authentische, sprich wahre Herkunftsgeschichten können erzählen, wer die Menschen hinter dem Produkt sind und damit automatisch, welche Werte mit dem Kauf dieses Produktes verbunden sind. Ein Ziel sollte sein, sprachlich von „DER Milchwirtschaft“ wegzukommen. Und hin zu einer Landwirtschaft, die im Hinblick auf das Produkt „Milch“ eine Vielzahl von Angeboten schafft. Es ist eine Riesenchance, aus dem Preisprodukt „Milch“ endlich ein „Wertprodukt“ zu machen.
Der LEH will nach eigenen Angaben bei der Auslobung der Haltungsformen 3 und 4 am Tierschutzlabel des Deutschen Tierschutzbundes festhalten. Allerdings werden weitere Siegel hinzukommen.
Die Molkereibranche soll klimaneutral produzieren, Tierwohl-Milch liefern und pflanzliche Produkte entwickeln. Doch die ungelöste Frage ist: Wer bezahlt das alles?