Seit der Zuchtwertschätzung im April wird der relative Gesamtzuchtwert (RZG) für Holsteins in einer neuen Zusammensetzung veröffentlicht. Die entscheidende Veränderung besteht in dem umgedrehten Verhältnis von Leistung und Gesundheit: Die neuen Gesundheitsmerkmale und die Kälberfitness nehmen zusammen 21 % im RZG ein, wohingegen der Anteil der Milchleistung von 45 auf 36 % deutlich reduziert wurde. Das hat wie erwartet zu merklichen Veränderungen der Zuchtwerte und der Rangierung von...
Seit der Zuchtwertschätzung im April wird der relative Gesamtzuchtwert (RZG) für Holsteins in einer neuen Zusammensetzung veröffentlicht. Die entscheidende Veränderung besteht in dem umgedrehten Verhältnis von Leistung und Gesundheit: Die neuen Gesundheitsmerkmale und die Kälberfitness nehmen zusammen 21 % im RZG ein, wohingegen der Anteil der Milchleistung von 45 auf 36 % deutlich reduziert wurde. Das hat wie erwartet zu merklichen Veränderungen der Zuchtwerte und der Rangierung von Einzeltieren geführt. Tendenziell zählen starke Gesundheitsvererber zu den Gewinnern, wohingegen einige Leistungsvererber an RZG-Punkten verloren haben.
Leistungssteigerung wird gebremst
Mehr Gesundheit auf Kosten von Milch – verabschiedet sich die deutsche Holsteinzucht jetzt von der Milchleistung? Und inwieweit verändern sich die Streuung und Sicherheit des RZG? „Der neue RZG wird die Welt für Holsteins nicht auf den Kopf stellen“, schätzt Dr. Stefan Rensing, vit, die Auswirkungen ein. Ein Überblick:
- Im Vergleich zum alten RZG reduziert sich der Zuchtfortschritt in der Leistung nur minimal. Das heißt: die Leistungssteigerung wird abgebremst, dennoch wird nicht „rückwärts“ auf Milch gezüchtet.
- In allen anderen Merkmalen steigt der Zuchtfortschritt, so auch beim Exterieur (RZE), weil dieses trotz gleich gebliebener Gewichtung von positiven Korrelationen zu Gesundheit (RZGesund) und Nutzungsdauer (RZN) profitiert.
- Der Zuchtfortschritt des RZS (Zellzahl) bleibt konstant, obwohl das Merkmal selbst nicht mehr berücksichtigt ist.
- Die Streuung und Sicherheit des RZGesund und RZE erhöhen sich, weil erstmalig auch die Korrelationen zwischen den Einzelmerkmalen berücksichtigt werden (z. B. zwischen RZEuterfit und RZKlaue oder Euter und Fundament). Das wirkt sich entsprechend auf die Streuung und Sicherheit des Gesamtzuchtwertes aus.
Was zählt für die Praxis?
Ein Gesamtzuchtwert spiegelt das Zuchtziel für die gesamte Population wider und soll dazu beitragen, den Zuchtfortschritt für alle wirtschaftlich relevanten Merkmale voranzutreiben. Er muss daher von Zeit zu Zeit angepasst werden, um den neuesten Erkenntnissen, technischen Möglichkeiten und geänderten wirtschaftlichen Anforderungen Rechnung tragen zu können. Die Einführung der Gesundheitszuchtwerte sowie die neu gewonnen Erkenntnisse zur wirtschaftlichen Relevanz von Zuchtmerkmalen durch die Entwicklung des RZ€ waren daher ausschlaggebende Gründe, den RZG erneut anzupassen.
„Was aber für die Population wichtig ist, muss nicht unbedingt für den Einzelbetrieb von Bedeutung sein“, erläutern Hartwig Meinikmann und Ingo Schnoor, PhönixGroup. Jeder Milcherzeuger muss individuelle Zuchtziele festlegen und einzelne Zuchtwerte separat beachten. Wem die Reduzierung der Leistung im RZG aus betrieblichen Gründen nicht passt, sollte Merkmale wie „kg Milch“ oder „RZM“ gesondert betrachten – bei der Bullenauswahl und v. a. bei der Selektion von Kuhkälbern im Rahmen der Herdentypisierung.
Wer keine Zuchttiere vermarktet, sollte sich am RZ€ orientieren.“
Hartwig Meinikmann, PhönixGroup
Für die Wahl zwischen RZG und RZ€ rät Hartwig Meinikmann: „Milcherzeuger, die keine Zuchttiere vermarkten, sollten sich am RZ€ orientieren, weil dieser die wirtschaftlich wichtigsten Merkmale, für die Zuchtwerte vorliegen, optimal kombiniert. Wird dagegen über die Zuchtviehvermarktung Einkommen erwirtschaftet, spielt das Exterieur eine Rolle, denn das Auge kauft nach wie vor mit. Diese Betriebe sollten tendenziell eher auf den RZG setzen.“
Der neue ökonomische Zuchtindex verspricht mehr wirtschaftliche Kühe im Stall. Der RZ€ kann zur Anpaarung und vor allem zur Nachzucht-Selektion genutzt werden.
Internationale Differenzen
RZG (und RZ€) sind „Made in Germany“ und auf die Bedürfnisse deutscher Milchkuhhalter zugeschnitten. Vergleicht man deren Zusammensetzung mit den relevanten Gesamtzuchtwerten in Nordamerika, werden deutliche Unterschiede sichtbar (Übersicht 1). Martin Buschsieweke, Semex, erklärt: „Die Korrelationen zwischen den Zuchtwerten sind durch die Gewichtungen und ihre Messung nicht wirklich hoch. Das heißt, wir können nicht sagen, ob ein hoher Bulle nach LPI oder TPI auch in Deutschland hoch testet und umgekehrt.“ Das kann aber auch den Vorteil haben, dass es zu einer größeren Streuung an Bullen(linien) führt.
Die weltweit führenden Milchfarmen machen sich immer mehr Gedanken über ihr eigenes Zuchtziel und definieren ihren Zuchtwert selbst, denn jeder Betrieb ist individuell, während die Gesamtzuchtwerte viele Kompromisse beinhalten.“
Martin Buschsieweke, Semex
„Jeder dieser Zuchtwerte versucht, in einzelnen Bereichen eine vordere Stellung einzunehmen und Neuerungen zu integrieren. Wichtig ist, dass die Neuerungen auch einen Mehrwert für die Betriebe liefern“, sagt Martin Buschsieweke weiter. Auch wenn die Anpassungen des RZG mit Fokus auf Fitness richtig sind, geht er davon aus, dass Leistung sowie ein ausgeglichenes Exterieur für viele Betriebe zukünftig wieder wichtiger werden. Für die Praxis betont aber auch er die Relevanz betriebsindividueller Zuchtziele: „Die weltweit führenden Milchfarmen machen sich immer mehr Gedanken über ihr eigenes Zuchtziel und definieren ihren Zuchtwert selbst, denn jeder Betrieb ist individuell, während die Gesamtzuchtwerte viele Kompromisse beinhalten.“
Zuchtwert Futtereffizienz
Zuletzt wurde der RZG 2008 angepasst, die nächste Anpassung könnte schneller erfolgen: mit der Einführung eines Zuchtwertes für Futtereffizienz in drei bis fünf Jahren. Da Futtereffizienz als sehr relevant für aktuelle Herausforderungen von Milchkuhhaltern angesehen und von einer hohen ökonomischen Bedeutung ausgegangen wird, soll der Zuchtwert zeitnah im RZG (und RZ€) integriert werden. In Kanada wurde mit der April-Zuchtwertschätzung erst kürzlich ein neuer Zuchtwert für Futtereffizienz eingeführt. Für Anfang kommenden Jahres kündigte Dr. Stefan Rensing unter Vorbehalt zudem die Einführung eines neuen Zuchtwertes für Persistenz an, der jenseits von 305 Tagen betrachtet werden soll.
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Fleckvieh und Braunvieh
Die Gesamtzuchtwerte (GZW) der Rassen Fleckvieh und Braunvieh wurden zuletzt 2016 angepasst. Auch hier wird die Gewichtung der Merkmalsblöcke anhand wirtschaftlicher Auswertungen festgelegt. Die Zusammensetzung zeigt, dass Fitness auch bei Doppelnutzungsrassen extrem wichtig und wirtschaftlich-relevant ist (siehe Kreisdiagramme). Obwohl die Leistungsmerkmale „nur“ mit 38 % gewichtet sind, ist die Leistung von Fleckviehkühen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Bernhard Luntz vom LfL führt das auf die vielen qualitativ hochwertigen Daten und die hohe Heritabilität der Leistung zurück. Außerdem ist das Merkmal Milch bei der Bullenauswahl stark nachgefragt. Beides bewirkt den hohen Zuchtfortschritt in der Leistung im Vergleich zur Fitness.
Ob in Zukunft auch die neuen Gesundheitszuchtwerte im GZW integriert werden und inwieweit sich die Zusammensetzung der GZW dann verändern könnte, wird sich in den nächsten zwei Jahren zeigen, wenn genügend Daten aus den laufenden Projekten vorliegen. „Möglicherweise werden der Leistungsanteil etwas reduziert und die Gesundheitszuchtwerte innerhalb des Fitnessblocks berücksichtigt, wofür wiederum andere Fitnessmerkmale zurückgehen könnten“, spekuliert Bernhard Luntz.
Neben dem GZW wird mit dem „Öko-GZW“ zudem ein Gesamtzuchtwert veröffentlicht, dessen Zusammensetzung an die in der ökologischen Wirtschaftsweise gewünschten Zuchtziele angepasst ist. Die Milch ist darin nur zu 20 % gewichtet, Fitness zu 65 %. „Besonders interessant ist das Merkmal Leistungssteigerung, das durchaus auch von konventionellen Betrieben nachgefragt wird“, meint Bernhard Luntz. Insgesamt beobachtet er eine wachsende Bedeutung des Zuchtwertes, weil es immer mehr Ökobetriebe gibt.
Quellen: BRS, vit, PhönixGroup, Semex, LfL
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