Milcherzeuger sind jeden Tag 24 Stunden für ihre Kühe verantwortlich und erfüllen ihre Aufgaben meist mit Überzeugung und viel Leidenschaft. Doch strengere Umweltauflagen, steigende Produktionskosten und kaum verfügbare Arbeitskräfte sorgen dafür, dass die psychische Belastung für Milcherzeuger zunimmt. Das kann zur Folge haben, dass Milcherzeuger immer mehr Aufgaben auf ihrem Betrieb selbst übernehmen und sehr lange Arbeitstage in Kauf nehmen.
Der Umgang mit Stress und Arbeitsbelastung ist stark vom Typ abhängig. Während einige Menschen unter Stress aufblühen, ziehen sich andere zurück. Wichtig ist es, den eigenen „Wohlfühlkorridor“ zu kennen. Zudem sind kurzfristige Arbeitsbelastungen meist überwindbar.
Wenn Arbeit und Stress jedoch überhand nehmen, können die psychische und physische Gesundheit der Betriebsleiter(-familie) auf dem Spiel stehen. Fatal wird es immer, wenn man sich stetig tiefer in die Arbeitsspirale hineinbewegt ohne einen Weg zu sehen, die Situation zu verbessern.
Tierarzt Dr. Frajo Siepelmeyer hat über 30 Jahre lang Milchkuhbetriebe betreut. Er gibt Tipps, an welchen Stellen Sie erkennen können, dass die Arbeit zu viel ist und wann eine andere Lösung her muss.
Frajo Siepelmeyer
Tierarzt
Keine Zeit mehr für Routinen
Besonders wachsende Betriebe mit hohen Schulden laufen in Gefahr einer Arbeits-Überlastung. Oft wird unterschätzt, dass ein Betrieb mit 200 Kühen anders geführt werden muss als ein Betrieb mit 60 Kühen. Dabei kommt es weniger auf die Kuhzahl an, sondern mehr auf die Veränderung, die das Wachstum mit sich bringt.
Denn wächst ein Betrieb, müssen auch die Kompetenzen in Sachen Mitarbeiterführung und die Fähigkeiten, zu delegieren und Aufgaben abzugeben, mitwachsen. Gelingt dieses nicht, kann es dazu führen, dass Routinearbeiten nur noch unzureichend, verspätet oder gar nicht mehr durchgeführt werden. Das zeigt sich z. B. an:
Liegeboxen: Eine Boxenreinigung findet nicht mehr (regelmäßig) statt, die Boxen (und die Tiere) sind verschmutzt. Defekte an der Boxenausstattung werden nicht repariert.
Futtergang: Die Futtervorlage erfolgt zu spät und die Kühe haben über längere Zeiträume kein Futter. Der Futtertisch ist unsauber, es liegt altes Futter oder kein Futter im Trog.
Melkstand: Der Melkstand und die Melkeinheiten werden erst mittags gereinigt. Der Melkstand wirkt staubig und dreckig, Fliegen werden nicht bekämpft. Bei der Melkarbeit werden wichtige Maßnahmen weggelassen (z. B. Vormelken, Zitzenreinigung). Kühe werden nach dem Melken nicht in die richtige Gruppe zugeordnet.
Abkalbestall: Der Bereich wird nicht mehr (ausreichend) gereinigt und entwickelt sich zu einer Infektionsbox.
Am Gesundheitsstatus der Kühe kann man viel ablesen. Denn nur bei ausreichend Zeit oder gutem Management kann vorbeugend gearbeitet, können Probleme erkannt und konsequent behandelt werden.
Einer der größten Indikatoren für Arbeitsbelastung ist die Eutergesundheit. Hier gibt es eine Vielzahl an objektiven Zahlen, die Rückschlüsse zulässt. Wenn zum Beispiel die Milchleistung der Kühe abfällt und dann die klinischen Mastitiden zunehmen, obwohl sich das Erregerprofil des Bestands, Futterzusammenstellung und die Melktechnik nicht geändert haben, kann das ein Hinweis auf Überlastung sein. Denn das Erkennen, Behandeln und Dokumentieren von Mastitiden kostet Zeit und sorgfältige Routinen. Werden die kranken Tiere nicht rechtzeitig behandelt, verschlechtern sich die Heilungsraten und der Anteil chronisch euterkranker Kühe in der Herde steigt, genauso wie der Antibiotikaeinsatz.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gesundheitszustand der Klauen. Fehlt die Zeit für eine sorgfältige Pflege, kann die Inzidenz lahmer Kühe schnell ansteigen und bei über 50 % der Herde liegen. Auch leichte Lahmheiten werden nicht erkannt bzw. nicht behandelt. Der Klauenstand wurde schon lange nicht mehr benutzt, es gibt keine regelmäßigen Zeitpunkte für die Klauenpflege. Das hat zur Folge, dass sich zahlreiche mittel- und hochgradig lahme Kühe entwickeln können.
Tipp: Schauen Sie einmal auf die Abgangsursachen Ihrer Kühe. Liegen dort die Lahmheiten ganz vorne oder auf zweiter Stelle?
In Milchkuhbetrieben, auf dem der Betriebsleiter an der Belastungsgrenze arbeitet, treten auch andere Erkrankungen häufiger auf, z. B.
Azidosen (unregelmäßige Fütterung, zu seltenes Nachschieben, uneinheitliche Ration);
Gebärmutterentzündungen (unbehandelte subklinische Hypocalcämie und nicht richtige Anfütterung).
Ein Blick auf den Zustand der Kälber kann ebenfalls zeigen, ob es auf dem Betrieb „rund“ läuft. Denn auch hier sind Standards und Routinen das A und O. Eine Kälbersterblichkeit von über 15 % zeigt an, dass dieser Bereich vernachlässigt wird. Weitere Anzeichen sind, wenn neugeborene Kälber zu lange bei der Mutter bleiben oder zu spät Kolostrum verabreicht bekommen. Auch mehrere Wochen alte Kälber sind noch immer in Iglus untergebracht und sind spät am Vormittag immer noch nicht getränkt. Die Kälberställe sind verkotet und werden nicht mehr regelmäßig eingestreut. Kälber werden zu spät oder gar nicht enthornt.
Checkliste: Belastung oder Überlastung?
Sollten die meisten der folgenden Punkte nicht zutreffen, empfiehlt es sich, Unterstützung zu finden.
• Liegeboxen werden regelmäßig gereinigt und eingestreut.
• Kaputte Stalleinrichtung wird repariert bzw. ersetzt.
• Futter wird regelmäßig vorgelegt und nachgeschoben. Altes Futter wird entfernt.
• Beim Melken wird die Routine eingehalten (Vormelken, Zitzenreinigung, Dippen).
• Der Melkstand wird direkt nach dem Melken gereinigt.
• Fliegen werden in den Stallgebäuden und im Melkstand bekämpft.
• Euterkranke Kühe werden erkannt und umgehend behandelt.
• Klauen werden regelmäßig kontrolliert, geschnitten, lahme Kühe schnell behandelt.
• Die Abkalbebox wird regelmäßig gereinigt und eingestreut.
• Kranke und abkalbende Kühe sind in getrennten Strohbereichen untergebracht.
• Die Kälberverluste (Verluste bei Geburt und bis zum Absetzen) liegen unter 5 %.
• Kälber werden nach der Geburt unverzüglich mit Kolostrum getränkt.
• Alle Kälber werden zu festen Zeiten und regelmäßig getränkt.
• Die Kälberställe werden regelmäßig gereinigt und eingestreut.
Wie geht es Ihnen eigentlich?
Weitere Anzeichen für eine Überlastung können Sie bei sich selbst finden. Denken Sie zum Beispiel einmal an die vergangenen Wochen. Sind Sie seit längerer Zeit sehr müde, haben keine Lust auf Ihre Arbeit und haben Sie Ihre Freunde schon lange nicht mehr gesehen? Kommt es zwischen Ihnen und Ihren Familienmitgliedern, Mitarbeitern und Dienstleistern vermehrt zu Spannungen oder Streit?
Wenn Sie möchten, dass ihre Tochter oder ihr Sohn den Betrieb weiterführt, zeigen Sie ihr/ihm, dass es neben der Arbeit auch noch ein anderes Leben gibt, für dass es sich lohnt zu arbeiten.
Frajo Siepelmeyer, Tierarzt
Wenn die tägliche Arbeit im Stall Sie so vereinnahmt, dass keine Zeit für Freunde, Urlaub oder Hobby bleibt, kann das – in Verbindung mit einer verschlechterten Tiergesundheit – ebenfalls starke Anzeichen einer Überforderung sein.
Ein kritischer Punkt ist zudem die eigene Gesundheit, z. B. wenn man Arztbesuche aufgrund von Zeitmangel nicht einhalten kann.
Unterstützung finden
Wer einen Milchkuhbetrieb bewirtschaftet, muss sich permanent mit vielen verschiedenen Aufgaben befassen und in verschiedene Themenbereiche einarbeiten. Wenn man es dann nicht mehr schafft, allen Aufgaben gerecht zu werden, ist das kein persönliches Versagen. Es ist vielmehr eine Herausforderung.
Sich einzugestehen, dass man Unterstützung benötigt, ist kein einfacher Schritt. Ebenso schwierig kann es sein, einen Freund anzusprechen, wenn man bei ihm/ihr diese Anzeichen erkennt. Scheuen Sie nicht, nach Unterstützung zu fragen. Hilfe gibt es u. a. bei den Beratern der
Wenn Sie möchten, dass ihre Tochter oder ihr Sohn den Betrieb weiterführt, zeigen Sie ihr/ihm, dass es neben der Arbeit auch noch ein anderes Leben gibt, für dass es sich lohnt zu arbeiten.
Neben der Arbeit im Kuhstall sind auch Freiräume wichtig, um zu entspannen.
(Bildquelle: Stöcker-Gamigliano)