Kompakt
Der Frust über die überbordende Bürokratie im Milchkuhbetrieb ist groß. Etliche Erzeuger sind an der Belastungsgrenze.
Als größtes Ärgernis und gleichzeitig größten Zeitfresser nennen sie die Düngedokumentation.
Die Praxis bezweifelt, ob es der Politik wirklich ernst ist mit dem Abbau von Bürokratie. Denn neue Auflagen sind in Planung.
Ohne meine Liste mit den ganzen Dokumentationspflichten und Meldefristen rund ums Jahr wäre ich mittlerweile verloren“, sagt Milcherzeugerin Claudia Evers*. Die drei DIN-A4-Seiten erinnern sie z. B. an die Stichtagsmeldung für die Tierseuchenkasse im Januar, an die Düngebedarfsermittlung und die Nährstoff- und Stoffstrombilanz sowie seit Neuestem an die Meldung von Bestandsveränderungen an die Antibiotika-Datenbank. „Mittlerweile frisst die Arbeit im Stallbüro sehr viel Zeit und das Schlimme ist: Bei den meisten Dingen verstehe ich den Sinn dahinter nicht“, bringt Evers den Frust vieler Praktiker auf den Punkt. „Warum sind Schmerzmittelgaben einzeln zu dokumentieren oder warum muss ich eine Totgeburt nochmal extra an den Entsorger melden, obwohl die Meldung an HIT bereits raus ist?“ Diese Fragen stellt sie sich fast täglich.
Das Gefühl, ständig kontrolliert zu werden, nicht mehr der eigene Herr zu sein und sich auch nicht wehren zu können, belastet zusätzlich.
Rainer Hahn, Berater LWK NRW
In den letzten zehn Jahren sahen sich Milcherzeuger geradezu einer Flut an neuen oder immer wieder nachgebesserten Auflagen und Aufzeichnungspflichten für Haltung, Fütterung oder Düngung ausgesetzt (siehe Infografik Seite 8). Bei etlichen ist mittlerweile die Belastungsgrenze erreicht: „Viele Milcherzeuger sind von dem zunehmenden Verwaltungsaufwand schlichtweg überfordert“, bestätigt Fynn Haaren, Spezialberater bei Koesling Anderson in Broderstorf. Das Gefühl fehlender Verlässlichkeit und Planungssicherheit sowie ständig kontrolliert zu werden, nicht mehr eigener Herr zu sein und sich auch nicht wehren zu können, belasten zusätzlich, so Rainer Hahn, Berater für Betriebswirtschaft und Produktionstechnik bei der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen (LWK NRW).
Die Folgen
Besonders stark leiden Familienbetriebe, die meist auch die Büroarbeit alleine schultern müssen. Bio-Betriebe ächzen ebenfalls unter den vielen Kontrollen. Bio-Milch-Erzeuger Eric Scheuer aus Saarburg: „Die Büroarbeit inklusive Buchführung kostet uns pro Woche zwei bis drei Stunden, hinzukommen zwei bis drei Tage im Jahr für Kontrollen und deren Vorbereitung. Wir haben extra eine Teilzeitkraft dafür eingestellt, sonst würden wir das nicht schaffen.“
Was durch den erhöhten Aufwand im Stallbüro vielfach auf der Strecke bleibt, ist nicht nur die Motivation, sondern auch die Betriebsentwicklung. So werden z. B. Investitionen gescheut, weil die Antragsverfahren zu aufwendig und langwierig sind. Für freiwillige Maßnahmen, z. B. für mehr Tierwohl und Umweltschutz, sinkt zunehmend die Bereitschaft. „Etliche Höfe werden die geforderten Investitionen vermutlich nicht stemmen können und in den nächsten Jahren aussteigen“, befürchtet Hahn.
Für produktionstechnische Beratung bleibt auf den Höfen, aber auch bei den Beratungsorganisationen, immer weniger Zeit. „Von unserer Beratungszeit gehen mittlerweile ca. 25 % für Dokumentationspflichten drauf“, sagt Frank Wattendorf von der Agrarberatung Allgäu. Vor dem Abgabetermin des Flächenantrags seien die Fachberater über Wochen nicht ansprechbar, berichtet ein Praktiker aus der Eifel. Fynn Haaren von Koesling Anderson ist sich sicher: „Junge Leute, die den Beruf des Landwirts erlernen wollen, werden dadurch abgeschreckt.“
Die größten Ärgernisse
Als weitaus größtes Ärgernis nennen viele Milcherzeuger die Düngedokumentation mit den Nährstoff- und Stoffstrombilanzen. „Das raubt uns die meiste Zeit und die Daten weichen regelmäßig von den Ergebnissen unserer GPS-Teilkarten ab“, sagt Josef Härle, Milcherzeuger mit 170 Kühen aus Ostrach (Baden-Württemberg). In 90 % der Futterbaubetriebe, die weit unter 2,5 GV/ha liegen, habe die Stoffstrombilanz zudem überhaupt keine Aussagekraft, so die Fachberater. „Warum sollen Bio-Betriebe eine Düngebedarfsermittlung erstellen, wo man doch in der Tierhaltung mit der 2 GV/ha-Grenze überhaupt nicht an das Stickstoff-Limit kommt?“, fragt sich Naturland-Berater Konrad Maier. Überhaupt seien pauschale und starre Obergrenzen, die keine Rücksicht auf regionale Besonderheiten nehmen, stark zu hinterfragen. „Hier im Allgäu mit fünf bis sechs Grasschnitten ist die zulässige Höchstmenge von 170 kg organischem Stickstoff im Grünland völlig praxisfremd. Sie führt lediglich zu einem massiven Druck auf den Pachtmarkt“, kritisiert Frank Wattendorf.
„Die Stoffstrombilanz raubt Zeit und macht keinen Sinn.“
Josef Härle, Milcherzeuger aus Baden-Württemberg
Infrage gestellt wird besonders auch das Antibiotika-Monitoring, das umfangreiche Maßnahmenpläne mit sich bringen kann: Der Aufwand dafür stehe angesichts der geringen Einsatzmengen im Kuhstall nicht im Verhältnis, so die einhellige Meinung bei Praktikern, aber auch bei Tierärzten. Das gilt erst recht für die Bio-Milcherzeugung. Die Reihe ließe sich beliebig und seitenlang fortsetzen.
Büroarbeit auslagern?
Natürlich kann man sich die Büroarbeit mit einer weitgehenden Digitalisierung im Betrieb etwas vereinfachen. „Ich kann vieles, wie etwa Meldungen an HIT, schnell über das Handy erledigen“, erklärt z. B. Claudia Evers. Andere lagern den Flächenantrag, die Düngebedarfsermittlung oder Stoffstrombilanzen an verschiedene Dienstleister, wie Beratungsdienste oder Maschinenringe, aus. „Ich sitze zwei Tage dran, die Berater erledigen das in drei Stunden“, berichtet Milcherzeuger Josef Härle. Das schaffe etwas Entlastung, seine Zahlen müsse man natürlich trotzdem kennen und mitdenken. Eine Auslagerung bedeutet im Gegenzug aber auch weitere Kosten, die nicht jeder Betrieb investieren will.
Was muss besser werden?
Um die Zukunftsfähigkeit der Branche zu sichern, führt daher letztlich kein Weg daran vorbei, unnötigen Ballast im Stallbüro deutlich zurückzuschrauben. An konkreten Vorschlägen aus der Praxis mangelt es nicht:
Mehr Digitalisierung: Digitale Systeme können den Aufwand reduzieren, allerdings nur, wenn sie reibungslos funktionieren. Eric Scheuer: „Oft kommen die Online-Programme der Verwaltung zu früh in die Anwendung, sodass es viele Fehler gibt.“ Berater Rainer Hahn sieht in Künstlicher Intelligenz (KI) eine Chance: „KI kann künftig helfen, die großen Datenmengen, wie Bodenanalysen oder Ertragsdaten, besser nutzbar zu machen.“ Die Praktiker wünschen sich zudem ganzjährig Zugang zu den digitalen Plattformen des Flächenantrags. Damit könne die doppelte Dokumentation entfallen. „Natürlich muss im gleichen Zug auch für mehr digitale Bildung in den Berufsschulen gesorgt werden“, betont Claudia Evers.
Mehr Schnittstellen: Für einen reibungsloseren Datenaustausch zwischen verschiedenen Plattformen, z. B. HIT und Antibiotika-Monitoring, müssen dringend mehr und bessere Schnittstellen geschaffen werden. Scheuer: „Mich ärgert, dass zum Teil fünf bis sechs Stellen die gleichen Daten wollen und sie nicht einfach ausgetauscht werden können.“ Vor allem jüngere Milcherzeuger sehen durch die Nutzung geschützter Plattformen auch kaum Konflikte mit dem Datenschutz, bestätigen die Berater.
„Digitale Systeme müssen reibungsloser funktionieren!“
Eric Scheuer, Milcherzeuger aus dem Saarland
Bessere Behörden-Kommunikation: Die Behörden sollten untereinander mehr und effizienter kommunizieren und mit einheitlicher Stimme sprechen. Kompetente Interessensvertreter, z.B. von den Verbänden, sollten von Anfang an stärker gehört werden. Bei der Planung neuer Vorgaben sollten häufige Praxisfälle von Anfang an bis zur konkreten Anwendung im Betrieb durchdacht werden.
Föderale Vorgaben vereinheitlichen: Viele Vorgaben und Gesetze sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. So verlangen manche Bundesländer im Rahmen des Antibiotika-Monitorings Maßnahmenpläne im Umfang von vier Seiten, andere, wie Schleswig-Holstein, lassen 15 Seiten ausfüllen. Effizient und transparent wäre eine bundeseinheitliche Lösung.
Längere Meldefristen, weniger Stichtagsmeldungen: Milcherzeuger wünschen sich weniger zeitlichen Druck, z. B. bei den Geburtsmeldungen an HIT. „14 Tage Spielraum würden uns mehr Luft verschaffen“, sagen Landwirte. Pauschale Zeitfenster im Ackerbau werden oft den regionalen Besonderheiten nicht gerecht.
Mehr risikobasierte Kontrollen: Mit risikobasierten Kontrollen könnte man den Kontrollaufwand, z. B. bei QM-Milch, verschlanken. „Für solch ein risikobasiertes Vorgehen bräuchte man von den Landwirten eine Freigabe von Tiergesundheitsdaten, also auch von den schwächeren Betrieben. Hierfür sind sicherlich sehr dicke Bretter zu bohren. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Daten in unserem föderalen System nicht einheitlich erfasst sind“, sagt Ludwig Börger von QM-Milch. Auch bei den Anforderungen der Kontroll- oder Zertifizierungsstelle gibt es große Unterschiede. Einheitliche Prüfkataloge wären wünschenswert.
194 Vorschläge in Prüfung
Ob die Politik mit ihrer vollmundigen Ankündigung, Bürokratie in der Landwirtschaft zeitnah abbauen zu wollen, ernst macht, bezweifeln viele Milcherzeuger. Eine Sprecherin des BMEL teilt auf Anfrage mit, dass man 194 Vorschläge gesichtet und eingeordnet habe. Aktuell gehe der Austausch mit den Bundesländern in die nächste Runde. In Arbeit sei z. B. die Vereinfachung der Vorgaben zu den Ohrmarken bei gekoppelten Zahlungen oder Änderungen bei der Agrarstatistik (siehe auch Kasten unten). Allerdings kündigt das BMEL im gleichen Atemzug mit der entwaldungsfreien Produktion und dem Artikel 148 neue Bürokratiemonster an. Wenn das mal kein Widerspruch ist …
* Name von der Redaktion geändert
Was das BMEL in Sachen Bürokratie-Abbau vor hat
Aktuell stehe man im engen Austausch mit der EU, den Bundesländern und den Verbänden, um Maßnahmen zu identifizieren und Regelungen umzusetzen, die den Abbau unnötiger Bürokratie ermöglichen. Konkret in Arbeit seien derzeit folgende Punkte:
– Erste Änderungen aus dem Prozess mit den Ländern werde es mit der Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem-Verordnung geben.
- Vereinfachungen bei den Vorgaben zu den Ohrmarken bei gekoppelten Zahlungen seien auf den Weg gebracht.
- Eine weitere Entschlackung der Ökoregelung, die über die bereits verkündete 3. Verordnung zur Änderung der GAP-Direktzahlungsverordnung hinausgehe, werde für das Antragsjahr 2025 vorbereitet.
Die Bearbeitung des Prozesses erfolge im BMEL mit den vorhandenen Personal- und Budgetmitteln.
Wie geht das eigentlich, unnötige Bürokratie wieder abzubauen? Das fragten wir den Beauftragten für Bürokratieabbau der Bayerischen Staatsregierung, Walter Nussel.
Alle reden von digitaler Technik im Stall. Doch bis wir die ganzen Möglichkeiten ausschöpfen können, dauert es wohl noch einige Zeit. Das zeigt unsere Praxisumfrage.