Unterwegs
Wie von Geisterhand zum Melken – und zurück
In der Nessetalmilch GmbH kann ein Mitarbeiter allein 670 Kühe melken, weil er den Melkstand nicht verlassen muss. Ein automatisches Treibesystem holt die Kühe.
Ein durchdringender Pfeifton ist zu hören. Wie von selbst stehen die Kühe in den Liegeboxen auf und treten auf den Laufgang. Dann macht sich die ganze Gruppe rasch auf den Weg zum Melkzentrum. Niemand ruft, niemand schreit, nirgendwo knallt ein Treibestock auf die Liegeboxenbügel. So leise ist es in einem Kuhstall während der Melkzeit selten. Wie von Geisterhand setzt sich nun noch ein Treibervorhang in Bewegung, um die wenigen Nachzügler einzusammeln.
Arbeitskräfte kaum zu finden
"Wir liegen hier in einer sehr industriestarken Region. Gute Arbeitskräfte zu finden und dauerhaft zu halten, ist für die Landwirtschaft sehr schwer“, erklärt Christof Kästner, Produktionsleiter der Nessetalmilch GmbH. Daher entschied sich die Betriebsleitung für die Automatisierung, als es vor einigen Jahren an die Planung eines neuen Stalles ging. Die gesamte Herde mit 14 Robotern zu melken, war ihm jedoch zu teuer und zu aufwendig. Also konzentrierte Kästner sich darauf, die Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. Ein ausgeklügeltes System aus Toren und Treibern bringt die Kühe selbstständig zum Melken.
Im 50er-Außenmelker-Karussell verhindert eine Positionierungshilfe („LegSpreader“) auf den Standflächen eng gestellte Hinterbeine, ein in den Melkzeugen integriertes Spraysystem (Apollo) dippt die Kühe automatisch. „So können wir einen gut bezahlten und komfortablen Arbeitsplatz anbieten, für den wir auch die entsprechenden Leute finden.“ Seit knapp zwei Jahren leben die Kühe nun im neuen Stall, gemolken wird drei Mal täglich. Mit dem Umzug in den Neubau konnte die Anzahl der Melker von neun auf vier reduziert werden. In jeder Melkschicht arbeitet jetzt nur noch eine Person, ein Mitarbeiter hat frei. Drei Stunden dauert eine Melkzeit.
Steuerungssoftware eigens programmiert
Auf die Idee, gerade das Treiben der Kühe zu automatisieren, kam Christof Kästner beim Besuch einer 1930er-Anlage (DDR-Typenstall) in Brandenburg. Dort läuft ein ähnliches Treibersystem. Er war begeistert von dem Konzept, dachte: „Das muss doch auch im modernen Boxenlaufstall funktionieren!“ und kontaktierte den Hersteller. Eigentlich auf automatische Fütterungssysteme für Typenställe spezialisiert, machte sich dessen Chef Ronald Kluge gemeinsam mit Christof Kästner ans Werk. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Das Melken kostet nur noch 1,28 Arbeitskraftminuten pro Tag, pro Kuh und Jahr werden für alle Aufgaben 28,46 Arbeitskraftstunden fällig.
In den Gruppen „treiben“ handelsübliche Kettentreiber von GEA die Kühe. Das sind schienengeführte Kettenvorhänge, angetrieben über Zugseile sowie Treibegatter für die kürzeren Strecken. Die automatischen Treiber brauchen lediglich etwas stärkere Motoren, weil sie eine Strecke von bis zu 70 Metern zurücklegen müssen. Komplizierter ist die Feinabstimmung der verschiedenen Komponenten untereinander. Der Ablauf beginnt zu einer festgelegten Uhrzeit, danach geht es abhängig vom Verlauf der Melkzeit weiter. Die Steuerungs- und Anwendersoftware musste Programmierer Ronald Kluge für den modernen Laufstall neu programmieren, denn in Brandenburg lief das System noch auf der Basis von MS DOS.
So funktioniert das automatische Treibesystem
Noch bevor sich der Treiber durch den Laufgang auf den Weg macht (3), ist ein anderes Treibegatter im Mittelgang bereits vorgefahren und blockiert den Weg (siehe Übersicht 4, Punkt 1). So können sich die Kühe lediglich in Richtung Melkzentrum bewegen. Die Tore zwischen Gruppe eins und Mittelgang fahren automatisch hoch (2). Ist der Laufgang-Treiber am Mittelgang angekommen und hat alle Kühe „übergeben“, schließen sich die Tore wieder. Der Treiber im Mittelgang fährt vor (1) und bringt die Kühe bis zum Warteraum. Dort schließt sich wiederum ein Tor (4) und der Warteraum-Treiber (5) führt die Kühe bis zum Eingang des Melkkarussells. Der Melker kann über eine Kamera den Warteraum einsehen. Das erlaubt ihm, den Grund für Störungen auszumachen, ohne gleich zeitaufwendig aus der Melkergrube klettern zu müssen.
Am Eingang des Melkkarussells und im Rücktreibegang befinden sich Lichtschranken in doppelter Ausführung, welche die Kühe zählen. 170 Tiere passen in eine Gruppe. Nach 98 %, also etwa 165 Tieren, schließt sich ein Tor am Rücktreibegang (6), gleichzeitig öffnen sich die Tore zur Gruppe (2). Durch die Zählschranke kann es sein, dass die letzten Kühe in eine andere Gruppe einsortiert werden. Ein letzter Treiber (6) bringt die Tiere durch den Rücktreibegang zurück, die Tore schließen sich und die nächste Tiergruppe wird gemolken. Die beiden hinteren Gruppen gelangen über eine Brücke über den Futtertisch, die ebenfalls über die Steuerung abgesenkt und heraufgezogen wird (7).
Pro Melkzeit bleibt etwa eine halbe Kuh zurück.
Da niemand kontrolliert, ob der Treiber alle Kühe „erwischt“ hat, bleiben vereinzelt Tiere liegen. „Bei dreimaligem Melken ist das aber nicht so schlimm. Pro Melkzeit bleibt etwa eine halbe Kuh zurück“, erläutert Kästner. Das Management muss darauf angepasst sein, lahme und kranke Kühe frühzeitig zu entdecken.
Viel Vor- und Nachwarteraum nötig
Um die Tiere automatisch zum Melkzentrum und zurückzutreiben, sollte man den Vorwarteraum statt 1,7 m2 besser mit 2,2 m2 pro Kuh dimensionieren, weil die Kühe weniger dicht stehen. Außerdem braucht es einen genügend großen Rückwarteraum. Denn während des Gruppenwechsels müssen für wenige Minuten zwei Tiergruppen, also rund 330 Kühe, gleichzeitig auf beiden Flächen Platz finden.
Eine weitere Besonderheit: Alle Behandlungen durch den Tierarzt finden in der Palpation Rail statt. Die vorgemerkten Kühe werden aussortiert, behandelt und mit dem letzten „Treiberdurchlauf“ zurück in den Stall gebracht. Der Tierarzt muss darum pünktlich sein: Montags und mittwochs, eine Stunde nach Melkbeginn, ist Behandlungszeit. Den Treiber außerhalb seiner programmierten Routine zu verwenden, ist aufwendig.
Über die Laktation hinweg wechseln die Kühe nicht zwischen den verschiedenen Leistungsgruppen. Die gesamte Herde wird einphasig gefüttert. Für diese Art der Herdenführung braucht es eine hohe Leistung (Herdendurchschnitt 10.260 kg) und ein gutes Zuchtniveau, damit alle Kühe gleich auf 37 kg am Trog gefüttert werden können. Auch eine gute Fruchtbarkeit ist wichtig: Besamt wird nach Aktivitätsmessung, die Zwischenkalbezeit darf 410 Tage nicht überschreiten. So bleibt die Herde frischmelk und das Just-In-TimeManagement funktioniert.
Der Futterfahrer ebnet alle zwei Tage die Tiefliegeboxen während des Melkens mit einer am Radlader angebauten Fräse ein. Nachgestreut wird ebenfalls über ein Anbaugerät etwa zwei Mal die Woche. Von Hand werden lediglich die Tränken gereinigt und die Übergänge abgeschoben. Pro Tiergruppe hat der Mitarbeiter dazu etwa 50 Minuten Zeit.
300 € pro Tierplatz
Zwischen den Melkzeiten liegen fünf „arbeitsfreie“ Stunden. So bleibt genügend Zeit, um Wartungs- und Reparaturarbeiten durchzuführen. Trotz der Komplexität läuft die Technik wartungsarm: Alle paar Wochen müssen die Seilzüge abgelaufen werden, um Schäden zeitig aufzuspüren. Die Motoren müssen entsprechend gewartet werden und liegen je ein Mal (verschiedene Motorentypen für Tore, Treiber) auf Reserve. Christof Kästner: „Zu Beginn hatten wir mehr Probleme. In den ersten drei Monaten war ich quasi rund um die Uhr im Einsatz. Die Zeitabstimmung zwischen den Treibern funktionierte nicht richtig, eine einfache Lichtschranke hat zu viele Tiere falsch gezählt.“ Heute ist er sehr zufrieden. Der Goldbacher Milchviehbetrieb musste rund 300 Euro je Tierplatz in die Treiber investieren. Die Investition hat sich gelohnt, da der Betrieb dadurch zwei AKh pro Tier und Jahr einspart.
Gab es Probleme mit der Bauabnahme bei diesem ungewöhnlichen Konzept? „Ja, es gab Bedenken in Sachen Tierschutz und Arbeitssicherheit. Aber die konnte ich den Verantwortlichen schnell nehmen.“ Es ist kein Mitarbeiter im Stall, den die automatischen Treiber gefährden könnten. Zwar besteht die Möglichkeit, die Treiber mit Strom zu koppeln. Doch die Ruhe, die die Kühe im Umgang mit den Geräten zeigen, macht schnell klar: Hier hat niemand Angst. Färsen laufen bereits vor der Kalbung mindestens acht Mal zur Kontrolle über das Karussell und lernen die Treiber kennen. Und auf dem Rückweg vom Melken stürmen die ersten Kühe schon unter dem Treibervorhang her, um schneller am Futtertisch zu sein. Kästner: „Der größte Vorteil ist, dass die Treiber rund ums Jahr jeden Tag zur gleichen Zeit ihre Bahnen fahren. Die haben keine schlechte Laune!“
Erneut besucht
Unser Besuch bei Christof Kästner ist schon eine Weile her. Im Herbst 2022 haben wir ihn erneut besucht. Mit dem automatischen Treibesystem ist er noch immer zufrieden. Mittlerweile lässt sich eine weitere Besonderheit auf seinem Betrieb finden....
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