Kompakt
Der Milchmarkt wird alle zehn Jahre von zwei bis drei Krisen getroffen, zeigen Untersuchungen des IFCN in Kiel.
Der nationale Milchpreis hängt vom Milchpreis am Weltmarkt ab, dieser wiederum vom Ölpreis am Weltmarkt.
Die Corona-Krise trifft den Milchmarkt durch Hamsterkäufe, eingeschränkte Gastronomie, Einlagerungen, unterbrochene Milchlieferketten, Rezession und politische Maßnahmen.
Russlands Milchmarkt könnte durch die Coronakrise gewinnen.
„Die Welt ist ein sehr komplexer Ort, im Moment sieht das wahrscheinlich jeder“, erklärte Torsten Hemme. Auch die Milchindustrie sei so ein komplexer Ort, der global verwoben ist und sich zudem permanent verändert. Die Branche steht vor großen Herausforderungen. Aktuell hat diese Veränderung einen konkreten Namen: SARS-CoV-2. Wie die Milchbranche sich durch diese Krise navigieren sollte und was die Aussichten für die nächsten Monate sind, darüber sprach IFCN-Geschäftsführer Torsten Hemme bei der diesjährigen AllTech-Konferenz. Die Konferenz fand zum ersten Mal nicht in Kentucky (USA), sondern virtuell im Internet statt.
Krisen seien für die Milchbranche nichts Neues und leider normal, erklärte Torsten Hemme. Untersuchungen des IFCN zufolge treten Krisen am Milchmarkt zwei bis dreimal alle zehn Jahre auf. Gemessen wird dabei der Weltpreis für Milch (4% Fett, 3,3% Eiweiß) in Einheiten von US-Dollar pro 100kg. Auf dem Weltmarkt hängen die Milchpreise vor allem vom Rohölpreis ab, diesem folgt mit leichter Verzögerung der Preis für Futtermittel. Der Milchpreis auf dem Weltmarkt (aktuell etwa 28 USD/100 kg) ist wiederum der größte Einflussfaktor auf die Milchpreise in den einzelnen Ländern. Zudem werden die nationalen Milchpreise von regionalen Nachfragen und Angeboten im eigenen Land sowie vom Bruttoinlandsprodukt in dem jeweiligen Land beeinflusst.
Wie wirkt Corona auf den Milchmarkt?
Um abzuschätzen, wie die aktuelle Corona-Krise den Milchmarkt beeinflusst, habe Torsten Hemme und seine Mitarbeiter beim IFCN die größten Krisentreiber herausgearbeitet. Diese sind:
- Panikkäufe und private Einlagerung: Das Phänomenen der Hamsterkäufe betrifft zuerst Länder, die von der Krise stark betroffen sind. Dias Verhalten wurde besonders in den USA und Europa beobachtet und wandert dann weiter in die Entwicklungsländer. Führt dazu, dass die Milchpreise ansteigen.
- Eingeschränkte Gastronomie, mehr Einkäufe im LEH: Die Balance aus Lebensmittelverbrauch in der Gastronomie und rivaten Einkäufen im Lebensmitteleinzelhandel beeinflusst den Milchpreis. Gibt es einen Überschuss an Milch, weil z.B. spezialisierte Milchverarbeiter wie Speiseeishersteller weniger verkaufen und produzieren, gibt es einen Milchüberschuss und der Milchpreis sinkt. In den USA ist dieser Einfluss stärker als in Europa.
- Unterbrochene Milchlieferketten: Bisher noch nicht stark ausgeprägt. Was Torsten Hemme im Moment stärker beunruhigt, sind vermehrte Schließungen von Schlachthöfen wegen COVID19-Ausbrüchen. Das könnte dazu führen, dass Kühe, die schon geschlachtet worden wären, immer noch auf den Betrieben sind (und teilweise weiter gemolken werden). Das kann tendenziell zu einem Milchüberschuss führen.
- Einlagerung: Besonders in Russland, China und Indien gibt es Milchüberschüsse, weil Verarbeiter und Lebensmittelunternehmen die Lager gefüllt haben, um zukünftige Lieferungen zu garantieren. So haben z.B. Schokoladenhersteller ausreichende Mengen Zucker und Milchpulver eingelagert, um den Betrieb in den Schokoladenfabriken aufrecht zu erhalten. Das kann dazu führen, dass Milchpreise stabil bleiben oder sogar leicht ansteigen.
- Rezession: Der größte Faktor für die Entwicklung der Milchpreise, der die Branche noch nicht in vollem Ausmaß getroffen hat. Sinkt aufgrund der weltweiten Rezession der Ölpreis am Weltmarkt, sinken damit auch die Einkommen und damit die Nachfrage nach Milch und Milchprodukten. Marktexperte Hemme schätzt, dass eine bevorstehende Rezession der größte Einflussfaktor auf den Milchpreis in den kommenden Monaten sein wird.
- Politische Maßnahmen: Um eine Überversorgung zu vermeiden, werden weltweit evtl. noch mehr Lagerbestände aufgefüllt oder versucht, mit anderen Maßnahmen die Nachfrage zu stimulieren. Was auch immer die politischen Maßnahmen sein werden, sie werden den Milchpreis kurzfristig stabilisieren.
- Weniger Milch: Der wichtigste Faktor, der den Milchpreis aus der wirtschaftlichen Krise herauszuholen vermag, wird wahrscheinlich eine geringere Milchmenge als Folge niedriger Milchpreise sein. Erst wenn die Milchmenge sinkt, wird der Milchpreis am Ende der Abwärtsspirale ankommen, schätzt Hemme.
Wie geht es weiter in 2020?
Ein Indikator für zukünftige Milchpreise sind Kontrakte mit Milch an der Börse. Denn der Markt für Futures gibt wieder, was Käufer und Verkäufer derzeit für die kommenden Monate erwarten. Betrachtet man die Futures auf dem Milchmarkt in der EU, den USA und Neuseeland, erwarten die Wissenschaftler für die nächsten Wochen ein Preistief von etwa 25 USD/100 kg Milch. Für das zweite, dritte und vierte Quartal rechnet das IFCN in Europa mit Milchpreisen von rund 30 USD, die zum Jahresende bis auf 32 USD ansteigen könnten. Für Neuseeland werden leicht darüber liegende Milchpreise erwartet. Hemme und sein Team erwarten, dass wenn das Milchangebot schnell auf die Siuation am Milchmarkt reagiert, der Rückgang der Nachfrage etwa vergleichbar mit der Krise in 2009 sein könnte. Wenn das Milchangebot in 2020 stark bleibt, werde die Nachfrage stärker betroffen sein als in der 2009er-Krise.
Milcherzeuger, Verarbeiter und Politiker sollten sich nach Einschätzung des IFCN darauf einstellen, dass der Milchpreis in den nächsten Jahren weiter stark nach oben und unten schwanken wird. Demnach ist es wahrscheinlich, dass sich die Milchpreise in 2021 erholen werden und erst in 2022 wieder auf einem hohen Niveau liegen könnten. Zu beachten bleibt, dass die nationalen Milchpreise weiterhin dem Weltpreis folgen werden, mit einer Verzögerung von einem bis vier Monate. Das bedeutet, dass die Milchpreis-Krise die meisten Länder noch nicht erreicht hat.
Ist Russland der große Gewinner?
Für den russischen Markt haben die Wissenschaftler des IFCN eine Fallstudie aufgestellt. Dort wurde der Wert des Rubels aufgrund der Corona-Krise um knapp 20% abgewertet. Für Russlands Milchbranche könnte das jedoch die große Chance auf Importunabhängigkeit bei Milch und Milchprodukten sein. Denn der russische Milchpreis ist ebenfalls gesunken, somit ist in Russland produzierte Milch günstiger als Importmilch. Da die russischen Milchkuhbetriebe jedoch zu denselben Kosten weiterproduzieren können, sind sie von der Corona-Krise kaum betroffen.
Nach Einschätzung des IFCN könnte sich Russland während dieser Krise vom zweitgrößten Importeur von Milch und Milchprodukten zu einem hohen Selbstversorgungsgrad entwickeln. Die Experten halten es nicht für unwahrscheinlich, dass Russland sich noch in 2020 von Milchimporten unabhängig macht. Der Import machte 2019 noch 2,8 Millionen Tonnen aus. Jedoch liegt das Wachstum der russischen Milchproduktion derzeit bei 5% (0,8 Millionen Tonnen). Geht jetzt die Nachfrage nach Milch um 10% (2 Mio. Tonnen) zurück (wie in der letzten Krise 2009), treffen sich Nachfrage und Angebot auf dem russischen Milchmarkt in der Balance.
Es wird in dieser Krise auch weitere Elemente geben, die überraschen könnten, ist sich IFCN-Chef Hemme sicher. Was wird etwa mit den Milchüberschüssen aus Weißrussland geschehen, sie bisher nach Russland exportiert wurden? Diese Milch könnte zu sehr günstigen Preisen den Weltmarkt fluten.
Mögliche Strategien für den Weg aus der Krise
Nach Einschätzung des IFCN gibt es für die aktuelle Krise zwei Strategien. Die eine sei, den Markt zu beobachten und die Marktkräfte das Angebot und die Nachfrage selber regeln zu lassen. Eine andere Strategie könnte sein, eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen zu starten, um der Milchbranche zu helfen. Möglich wäre dies zum einen über ein Aufstocken der Lagerbestände oder ein Reduzieren der Milchmengen (z.B. über weniger Verarbeitung, staatl. Prämien für weniger Milchlieferungen oder für Schlachtkühe, A/B-Preismodelle,…), ein Ankurbeln der Nachfrage (z.B. über Exportförderung, Schulmilchprogramme,…) und Unterstützung der Milcherzeuger (z.B. Förderungen, günstige Kredite, Beratungsangebote, Versicherungen,…).
Die Coronakrise und die Auswirkungen auf den Milchmarkt werde noch mindestens bis zum vierten Quartal 2020 anhalten. Erst in 2021 oder 2022, so die Marktexperten, werden alle wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überwunden sei.