Hochtragende Rinder und Milchkühe sollten nicht geschlachtet werden – darüber gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. In Deutschland werden deshalb zum Schutz der ungeborenen Kälber voraussichtlich demnächst Vorschriften erlassen.
Angeblich sollen 180.000 trächtige Rinder (zumeist Kühe) jährlich an deutsche Schlachthöfe...
Hochtragende Rinder und Milchkühe sollten nicht geschlachtet werden – darüber gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. In Deutschland werden deshalb zum Schutz der ungeborenen Kälber voraussichtlich demnächst Vorschriften erlassen.
Angeblich sollen 180.000 trächtige Rinder (zumeist Kühe) jährlich an deutsche Schlachthöfe angeliefert und getötet werden. Deren ungeborene Kälber ersticken kurz danach bei der Schlachtung – so die Anklage von Tierschützern, die in den letzten Wochen in mehreren TV-Beiträgen aufgegriffen wurde. Aufgeschreckt durch die Berichterstattung in den Publikumsmedien hat die Politik das Thema jetzt auf die Agenda gesetzt. Erste Forderungen, wie ein Transportverbot für hochtragende Rinder und Kühe (Agrarminister Schmidt), liegen bereits auf dem Tisch. Diskutiert werden aber auch bereits weitere Maßnahmen, wie z. B. die Schlachtung gravider (trächtiger) Tiere komplett zu verbieten (Forderung der grünen Landwirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen).
Gemäß Tierschutztransportverordnung ist der Transport von kranken und geschwächten Tieren ohnehin nicht gestattet. Auch dürfen hochträchtige Tiere (ab Vollendung der Trächtigkeit zu 90 %, demnach also Rinder ab dem achten Trächtigkeitsmonat) nicht mehr zum Schlachthof transportiert werden. Es stellt sich also die Frage, ob es sich in den Medienberichten nur um Einzelfälle handelt, die ganz gezielt und bewusst von der Presse aufgegriffen wurden, oder ob ein regelmäßiger Missstand vorliegt?
Aufmerksam geworden sind die TV-Sender durch eine Erhebung von Prof. Dr. Katharina Riehn und Kollegen (2010/2011), in der die Wissenschaftlerin die Daten aus 53 Schlachthöfen aufbereitet hat. Laut der Erhebung waren in einigen Schlachthöfen bis zu 15 % der pro Jahr angelieferten Rinder trächtig. 90 % davon befanden sich im zweiten und dritten Trächtigkeitsdrittel. Allerdings schwankte der Anteil trächtig angelieferter Rinder zwischen den Schlachtbetrieben enorm (0,2 % bis 15 %). Die Autoren der Studie gehen deshalb auch davon aus, dass die Mehrzahl der tragenden Tiere bewusst der Schlachtung zugeführt wurde.
Übersichtsstudie findet niedrigere Fallzahlen
Wie belastbar sind letztlich diese Zahlen? Unbestritten ist, dass immer wieder tragende Rinder und Kühe in Schlachthöfen angeliefert werden. Eine neuere und sehr umfangreiche, auf nord- und süddeutschen Schlachthöfen durchgeführte Untersuchung (59.335 Datensätze) kommt jedoch zu deutlich geringeren Fallzahlen.
In der von Januar 2013 bis September 2014 von Braunmiller durchgeführten Studie lag in 2013 der Anteil hochträchtiger Kühe bei der Schlachtung bei 1,1 %, im Jahr 2014 waren es sogar nur 0,81 %. Hochgerechnet wären das etwa 18.600 hochträchtig geschlachtete Rinder bezogen auf die im Jahr 2013 in Deutschland geschlachteten 1.217.644 Kühe und 472.077 weiblichen Jungrinder (über 12 Monate alt, noch nie gekalbt). Demnach wurden also zehn Mal weniger trächtige Rinder und Kühe geschlachtet als die 180.000 in der Presse propagierten.
Dass deutlich weniger als 180.000 tragende Rinder und Kühe jährlich der Schlachtung zugeführt werden, schätzt auch Professorin Dr. Mechthild Freitag vom Fachbereich Agrarwissenschaft der Fachhochschule Südwestfalen (Soest), die sieben Studien auswerte. Neben der bereits zitierten Riehn-Studie fanden sich nur noch zwei Mal Werte von über 10 % geschlachteter gravider Kühe, im Durchschnitt waren 4 bis 5 % der angelieferten Rinder trächtig. Allerdings offenbarte die Auswertung auch, dass die Zahlen zwischen verschiedenen Schlachthöfen stark variieren: Die Anlieferung gravider Rinder schwankte zwischen 0 % und 10,8 %. Experten vermuten, dass einige Schlachthöfe die gesetzlichen Bestimmungen streng auslegen (0 %), andere wiederum nicht (10,8 %). Seitens der Rinderhalter wird gerne unterstellt, dass die Tierhalter nichts von der Trächtigkeit ihrer Tiere wussten. Dies mag für Mutterkuhhalter in Ausnahmefällen zutreffen, nicht aber für Milcherzeuger. Im Milchkuhbetrieb kann jederzeit eine Trächtigkeitsdiagnose erfolgen. Wenn hochträchtige Kühe zum Schlachthof transportiert werden ist dies ein Managementfehler, den es abzustellen gilt.
Dokumentation von Trächtigkeits-untersuchungen verbessern
Was viele Tierschützer auf die Palme bringt ist die Vorstellung, dass die ungeborenen Kälber aufgrund von Sauerstoffmangel „qualvoll“ im Schlachtkörper ersticken. Unterstellt wird dabei, dass Föten zumindest in dem letzten Trächtigkeitsdrittel schmerzempfindlich seien und deshalb auch leiden können. Denn das Muttertier wird dabei zwar betäubt, nicht aber das ungeborene Kalb. Unumstritten ist, dass Föten auf verschiedene Einwirkungen von Außen mit Herz- und Kreislaufreaktionen und einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen reagieren. Dennoch gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass der Fötus vor der ersten eigenständigen Atmung über kein Schmerzempfinden verfügt, da das Bewusstsein in diesem Fall noch nicht ausgebildet ist.
Fakt ist jedoch auch, dass die Föten in Folge einer Hypoxie sterben (Mangelversorgung des gesamten Körpergewebes mit Sauerstoff). Bei der Ausweidung der geschlachteten Rinder sind die Föten bereits tot (Hinweis: Das ist kein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, denn das Gesetz bezieht keine ungeborenen Tiere ein). Eine Lösung dieses Problems, d. h. eine Entnahme der Föten vor der Schlachtung oder ein tierschutzgerechtes Töten der Föten mit einer Betäubung ist derzeit nicht möglich. Die Entwicklung eines solchen Verfahrens ist auch noch nicht absehbar. Hinzu kommt, dass am Schlachthof keine „Entwicklung eines lebenden Kalbes mehr erfolgen darf“. Selbst im Falle einer „Notgeburt“ (z. B. Kaiserschnitt) müssten Kalb und Kuh sofort getötet werden. Stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen den Tieren nicht mehr zusetzt als das „normale“ Schlachten?
Wird das Tierschutz-gesetz geändert?
Gelingt es der (Milch)Branche nicht, das Problem zeitnah in Eigenregie zu lösen, wird eine politische Lösung wohl unausweichlich. Wie eine solche bundesweite gesetzliche Regelung aussehen könnte, erläuterte Dr. Katharina Kluge, Referatsleiterin Tierschutz im Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) auf dem BbT-Kongress 2015: Man könnte z. B. das Tierschutzgesetz ändern und den Tierhaltern die Abgabe hochträchtiger Tiere an einen Schlachthof verbieten. Die zweite Möglichkeit wäre ein ausgeweitetes Transportverbot für Tiere im letzten Drittel der Trächtigkeit. Die aktuell gültige EU-Regelung verbietet nur den Transport in den letzten zehn Prozent einer Trächtigkeit, um das Muttertier vor einer Geburt während des Transportes zu schützen. Beides wären jedoch nationale Verbote, die nicht für Tiere gelten, die aus dem Ausland an deutsche Schlachthöfe geliefert würden.
Niedersachsen hat zu dem Thema bereits ein Projekt gestartet, das federführend für den Nordwesten sein soll und dabei folgende Ziele formuliert:
- Verbot des Transports gravider Nutztiere zum Schlachthof.
- Festlegung von Regeln für die Anwendung von Betäubungs- und Tötungsverfahren für ungeborene Kälber – insbesondere einen Zeitpunkt, ab wann für sie eine tierschutzgerechte Tötung erfolgen muss.
- Rückmeldung vom Schlachthof an den Tierhalter vorschreiben, wenn dieser trächtige Tiere anliefert – und dies auch wirtschaftlich sanktionieren.
- Mehr Transportkontrollen und mehr Sanktionen.
- Bedingungen schaffen, damit gravide Nutztiere bis zur Niederkunft auf dem Betrieb bleiben können.
- Verbot des Transports gravider Nutztiere zum Schlachthof.
- Festlegung von Regeln für die Anwendung von Betäubungs- und Tötungsverfahren für ungeborene Kälber – insbesondere einen Zeitpunkt, ab wann für sie eine tierschutzgerechte Tötung erfolgen muss.
- Rückmeldung vom Schlachthof an den Tierhalter vorschreiben, wenn dieser trächtige Tiere anliefert – und dies auch wirtschaftlich sanktionieren.
- Mehr Transportkontrollen und mehr Sanktionen.
- Bedingungen schaffen, damit gravide Nutztiere bis zur Niederkunft auf dem Betrieb bleiben können.
Zeitnah soll eine entsprechende Vereinbarung nach dem Vorbild des Landeskodex aus Schleswig-Holstein mit Tierhaltern, Viehhändlern/Vermarktern sowie Schlachthöfen/Fleischwirtschaft geschlossen werden. Dabei möchte Niedersachsen solche Vereinbarungen möglichst länderübergreifend verbindlich machen, um einen „Schlachthoftourismus“ zu verhindern. Gute Chancen dürften hier in der Zusammenarbeit von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bestehen, weil dort alle zuständigen Landwirtschaftsministerien von grünen Politikern geführt werden.
Auch das grün-regierte Baden-Württemberg erfasst zurzeit die Daten zur Schlachtung gravider Tiere an allen Schlachthöfen, um sich so einen Überblick über die tatsächliche Dimension des Problems zu verschaffen.
Ein Verbot wird kommen
Auf Bundesebene ist eine Verbotsregelung aber wohl frühestens im Jahr 2018 zu erwarten, denn erst Ende 2017 ist ein Forschungsprojekt (S!gn) abgeschlossen, das die entsprechenden Daten liefert (federführend ist Professorin Dr. Katharina Riehn, s. o.). Aktuell werden u. a. die Fallzahlen aller trächtigen Tiere am Schlachthof erfasst. Erste Äußerungen der Projektverantwortlichen machen deutlich, dass die Anlieferung hochträchtiger Tiere an den Schlachthof bzw. ein Transportverbot im letzten Drittel der Trächtigkeit unumgänglich erscheint. Welche Sanktionen die Tierhalter bei Verstößen zu erwarten haben, ist allerdings noch nicht absehbar.
Für die (Milch)Branche besteht also noch die Möglichkeit, sich des Problems anzunehmen und selbst Lösungsansätze zu entwickeln und diese zeitnah umzusetzen.
Ein solcher Ansatz wäre z. B. die Indikationslösung, die u. a. auch von der Bundestierärztekammer (BTK) toleriert würde, wie deren Präsident Prof. Dr. Theo Mantel im Gespräch mit Elite erklärte:
- Der Hoftierarzt stuft nach gründlicher Untersuchung eines weiblichen Rindes (ab 187. Trächtigkeitstag) dieses als nicht mehr therapierbar ein bzw. erklärt, dass eine Schlachtung aus tierschutzrelevanten Gesichtspunkten angebracht ist (das Tier wird vor Leiden und Qualen geschützt…).
- Der Tierarzt stellt eine entsprechende Bescheinigung (Indikation) aus, sodass das Rind/Kuh zu einem geeigneten Schlachthof transportiert werden kann.
- Dort wird die (Not)Schlachtung im Vorfeld angekündigt, sodass das Tier dort sofort nach Ankunft notgeschlachtet werden kann.
- Der Hoftierarzt stuft nach gründlicher Untersuchung eines weiblichen Rindes (ab 187. Trächtigkeitstag) dieses als nicht mehr therapierbar ein bzw. erklärt, dass eine Schlachtung aus tierschutzrelevanten Gesichtspunkten angebracht ist (das Tier wird vor Leiden und Qualen geschützt…).
- Der Tierarzt stellt eine entsprechende Bescheinigung (Indikation) aus, sodass das Rind/Kuh zu einem geeigneten Schlachthof transportiert werden kann.
- Dort wird die (Not)Schlachtung im Vorfeld angekündigt, sodass das Tier dort sofort nach Ankunft notgeschlachtet werden kann.
Wissentlich dürfen nur trächtige Kühe zum Schlachten abgegeben werden, von denen zu erwarten ist, dass sie die restlichen Trächtigkeitstage nicht qualfrei durchstehen. Hier sind in erster Linie Probleme mit dem Bewegungsapparat zu nennen, die das Aufstehen und Laufen behindern. Dazu kommen Tiere mit frischen Verletzungen, deren Behandlung nicht möglich ist. Aber auch wenn notwendige therapeutische Maßnahmen (Euterverletzungen, Mastitiden) zu Schmerzen führen und das Wohlbefinden der trächtigen Tiere beeinträchtigen, muss eine Notschlachtung trotz fortgeschrittener Trächtigkeit noch möglich bleiben! Hingegen würden alle therapierbaren Kühe bis zur Abkalbung auf dem Hof verbleiben (im Krankenstall!). So ließe sich das Schlachten trächtiger Kühe auf absolute Notfälle beschränken lassen!
Diese Indikationslösung hat jedoch zwei gravierende Nachteile:
- Der Transport zum Schlachthof führt bei einem hochtragenden Rind/Kuh zu einer enormen Stressbelastung. Dieser Stress ist als tierschutzrelevant einzustufen.
- Nicht alle Schlachthöfe sind logistisch darauf eingerichtet, krank angelieferte Kühe unmittelbar nach der Anlieferung zu schlachten. Oftmals bleiben die kranken Kühe zunächst „liegen“, bevor sie Stunden später, völlig entkräftet „erlöst“ werden (nicht selten werden diese Tiere abgelichtet und mit reißerischen Kommentaren dann in den Medien publiziert).
- Der Transport zum Schlachthof führt bei einem hochtragenden Rind/Kuh zu einer enormen Stressbelastung. Dieser Stress ist als tierschutzrelevant einzustufen.
- Nicht alle Schlachthöfe sind logistisch darauf eingerichtet, krank angelieferte Kühe unmittelbar nach der Anlieferung zu schlachten. Oftmals bleiben die kranken Kühe zunächst „liegen“, bevor sie Stunden später, völlig entkräftet „erlöst“ werden (nicht selten werden diese Tiere abgelichtet und mit reißerischen Kommentaren dann in den Medien publiziert).
Auf dem Hof schlachten
Deshalb erscheint es sinnvoller, hochtragende, kranke Rinder und Kühe, sofern diese zuvor vom Tierarzt als nicht mehr therapierbar eingestuft wurden, direkt auf dem Hof zu schlachten. Dem kranken Tier wird so der extrem belastende Transport erspart, die Schlachtbranche muss nicht kostenintensive separate Systeme installieren (Feststellung der Trächtigkeit, Rückmeldung an den Landwirt, separate Schlachtkette).
Rinder- und Milchkuhhalter sind gut beraten, diese Diskussion aufzugreifen, denn noch können sie mitreden, wie künftig mit hochtragenden, kranken Tieren verfahren werden soll. G. Veauthier