Die großen Handelsketten haben eine enorme Marktmacht und können den Molkereien die Preise für Milch und Milchprodukte beinahe nach Belieben diktieren, weil die Molkereien in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Wie kommen wir da wieder raus?
Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel (LEH) benimmt sich mit seinem hohen Discountanteil absolut...
Die großen Handelsketten haben eine enorme Marktmacht und können den Molkereien die Preise für Milch und Milchprodukte beinahe nach Belieben diktieren, weil die Molkereien in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. Wie kommen wir da wieder raus?
Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel (LEH) benimmt sich mit seinem hohen Discountanteil absolut verantwortungslos und trägt somit zu einem großen Teil zur Milchpreismisere in Deutschland bei.“ Mit dieser steilen These starten wir in das Gespräch mit Hans Stöcker, Milcherzeuger und Vorsitzender der Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW.
Herr Stöcker, wie kommen Sie darauf?
In Deutschland haben wir eine besondere Situation. Die TOP5 des LEH mit allen Töchtern und Discountern verkaufen ca. 80% der Basismilchprodukte wie Trinkmilch oder Joghurt („weiße Linie“). Davon werden rund 60% als Eigenmarken („Private Label“) der Discounter vermarktet. Das führt dazu, dass ein ganz großer Teil der Milch nicht mehr unterscheidbar ist. Die Milch ist ein austauschbares Produkt!
Wo liegt das Problem?
Die Molkereien können ihre Produkte nicht mehr selbst als Markenprodukte bewerben und verhandeln. Der Markeninhaber, in diesem Fall die Handelsketten, bestimmt Ausrichtung, Merkmale und Positionierung einer Marke und beeinflusst somit die Wertschöpfung. In anderen Ländern arbeiten Supermärkte mit den Marken der Lieferanten. Somit lässt man dem Verbraucher eine Wahl und ermöglicht Wettbewerb. Das wird in Deutschland komplett unterbunden. Wer mitverdienen will, muss sich dem LEH anbiedern und wird mit hohen Listungsgebühren abgestraft.
Aber es gibt doch Supermärkte wie Edeka oder Rewe, die sogar eine ganze Menge Markenmilch anbieten?
Natürlich bieten einige Supermärkte mehr Markenvielfalt in den Regalen, aber auch diese setzen verstärkt auf ihre günstigen Handelsmarken. Die Discounter haben einfach einen enormen Marktanteil! Die Bauern und ihre Molkereien haben überhaupt keine Chance mehr, mit eigenen Konzepten bis zum Verbraucher durchzudringen. Das Ziel der Discounter ist die Preisführerschaft, diese Strategie fahren sie seit Jahrzehnten und sind damit groß geworden, die Menschen mit dem „Geiz ist geil“-Virus zu infizieren. Dazu kommt, dass Discounter wie Aldi sogar öffentlich erklären, nur den eigenen Kunden gegenüber verantwortlich zu sein und nicht den Erzeugern. Das gibt es in anderen Branchen nicht – dort wird Verantwortung für die Produktionskette übernommen! Nirgendwo sonst wird konsequent lediglich das unterste Niveau der Weltmarktpreise bezahlt, nur um die eigenen Vorteile durchzudrücken. Aus diesen Gründen haben die Discounter kein Interesse daran, die Marktpreise auf einem Niveau zu halten, dass eine kostendeckende Milchproduktion ermöglicht.
Haben die Molkereien nicht den Fehler gemacht, Milch jahrelang einfach abzugeben, ohne ihr ein besonderes Image zu verpassen?
Ja, das ist wahr. Der Verbraucher weiß, dass die Qualität der Milch bei den Discountern der Markenmilch genau entspricht, dort nur um die Hälfte günstiger. Sie haben das falsche Image aufgebaut! Aldi, Lidl, Penny & Co. haben es über Jahrzehnte der Markenarbeit geschafft zu sagen: „Ich, dein Discounter, stehe für gute Qualität zum günstigsten Preis.“ Aus Sicht von Discountern und der Verbraucher eine absolute Erfolgsstory! Aber für die Erzeuger ist es eine Katastrophe. Nicht nur die Milchbauern, auch die komplette vielfältige mittelständische Lieferantenstruktur kommt strukturell unter Druck; es kommt zu einer Vereinheitlichung aller Produkte. Der Handel kann nun nach Belieben die Überflusssituation ausnutzen und mithilfe billiger Milch seine eigenen Marken stärken. Dies führt zu diesen extremen Volatilitäten in den Märkten. Milch ist leider ein hervorragendes Zugprodukt, um die Menschen täglich in den Laden zu locken. Sind sie erstmal da, fallen hohe Aufschläge bei anderen Lebensmitteln nicht mehr so ins Gewicht.
Gibt es keine Möglichkeit, die Discounter zu boykottieren oder „auszutrocknen“?
Diesen Krieg haben die Molkereien leider verloren. Keine Molkerei kann sich hier verweigern! Es ist unrealistisch, zu den Angeboten der Discounter Nein zu sagen, denn sie sind die Marktführer in der weißen Linie – da gibt es keine Alternative! Eine kleinere Molkerei, die zu 80 oder 90% Frischeprodukte herstellt, kann darauf nicht verzichten. Wenn sie nicht an die Discounter liefern, muss die Molkerei die komplette Milchmenge zu noch niedrigeren Preisen auf dem Spotmarkt absetzen. Ein Geschäftsführer einer Molkerei, der so handelt, wäre sofort seinen Job los.
Müssten die Molkereien nicht zusammenarbeiten, um dem Handel besser die Stirn zu bieten?
Auf dem Papier ist das theoretisch möglich. Allerdings sind in Deutschland noch 80 bis 100 Molkereien in der weißen Linie tätig. Und jetzt versuchen Sie mal, eine kleine bayerische Genossenschaftsmolkerei mit drei H-Milch-Straßen und einer kleinen Käserei mit einer großen DMK oder einer Arla zusammenzubringen, die auf ganze Frischmilch-Werke zurückgreifen können. Wie teilt man da Verluste auf? Zudem ist eine Absprache kartellrechtlich schwierig.
Klingt nach einer ziemlich verzwickten Situation. Wie könnte eine Lösung aussehen?
Im Endeffekt haben wir heute dieselben Strukturen wie auf dem digitalen Markt. Dort haben Konzerne wie Google und Apple mit in sich geschlossenen Systemen und extrem hohen Marktanteilen eine solche Marktmacht, dass sie von der Kartellbehörde regelrecht „gezwungen“ werden müssen, auch anderen Anbietern Raum zu geben. Bei uns besteht die einzige Aufgabe des Kartellamtes darin, aufzupassen, dass der Endverbraucherpreis nicht abgesprochen wird. Aber in der Realität haben wir ja weniger ein Problem mit Preisabsprachen als mit dem Marktzugang.
Das heißt, wir sollten die Discounter zwingen, das Regal für Molkereimarken zu öffnen?
Genau. Leider unterschätzen die Kartellbehörden die Gefahr des erschwerten Marktzugangs. Das beschriebene Szenario ist in der Gesetzgebung so nicht vorgesehen. Die Discounter führen in der derzeitigen Überflusssituation das Preisdumping sogar im Ausland weiter und untergraben mit billiger deutscher Milch bald den gesamten europäischen Markt!
Aber es muss doch irgendwie möglich sein, die Discounter an die Kandare zu nehmen?
Es muss weniger Milch auf den Markt. Aber nicht über eine Mengensteuerung der Rohmilch, die bei freien Im- und Exporten und durch die aktuelle Kartellgesetzgebung so nicht zu realisieren ist. Viel effektiver ist es, die Milch anders zu verwerten und dem deutschen Markt zu entziehen: als Käse nach Russland, als Kondensmilch nach Saudi Arabien und den Mittleren Osten oder in Form von Kindernahrung nach Asien. Trotzdem wird der Handel mächtig bleiben, denn bei der vorhandenen Molkereistruktur in Deutschland ist es unrealistisch, dass wir alle „überflüssige“ Milch höher verwertet bekommen.
Lässt sich nicht mit Regionalität beim Verbraucher punkten?
Das könnte langfristig eine Chance sein, denn es vermindert die Austauschbarkeit. Die Frage ist dann: „Was ist regional?“ Je höher die Veredlungsstufe, desto weiter muss ‚regional‘ gefasst werden. 100% aus der Region geht heute nicht mehr bei veredelten Produkten. Die Region dürfte sich letztlich an dem Zentrallager der Supermarktketten orientieren. Diese Zentrallager müssen mit den entsprechenden Mengen beliefert werden können. Zudem muss die Käserei, der Frischmilchbetrieb oder der Direktverarbeiter in deren Kostenstruktur arbeiten können. Als Region sind wir dann aber schnell bei Deutschland.
Milch aus Bayern kann ja keine niedersächsische Molkerei liefern!
Das stimmt. Es bietet den Molkereien Chancen, sich regional zu differenzieren. Aber geht diese Milch in Eigenmarken, bleibt die Rendite für die Molkereien gering. Die Austauschbarkeit nimmt ab, der Handel will die Marken jedoch selbst in der Hand halten, um ggfs. die Lieferanten austauschen zu können.
Also brauchen wir eine stärkere Differenzierung bei der Milch, z.B. GVO-frei?
Die Preiskrise nutzt dem Handel, um neue Konzepte wie GVO-frei erzeugte Milch günstig, lediglich über kleine Zuschläge, zu installieren.
... und irgendwann ist der kleine Zuschlag weg, weil dann ist es ja Standard.
Nun ja, so läuft es hier im Handel. Dadurch verlieren unsere Premiummarken ihren Vorsprung. Der Vorsprung muss dann wieder ausgebaut werden, um einen Vorteil für die Verbraucher zu kreieren. Dann müssen die Molkereien wieder den nächsten Schritt machen.
Müsste man den Molkereien eigentlich raten, sich mehr im Ausland zu engagieren, weil in Deutschland bei den Discountern nur eine enorm schlechte Wertschöpfung zu holen ist?
Sicher, in Zukunft wird gerade die industrielle Verwertung, das heißt Milch als Rohstoff für die Lebensmittelindustrie, unser Wachstumspfad sein. In diesen Bereich werden die Molkereien investieren müssen. Das sind dann die Nahrungsmittel der nächsten Generation.
Die Bevölkerung wächst weltweit, es werden mehr hochwertige Nahrungsbestandteile für die Ernährung gebraucht. Eiweiß zum Beispiel ist häufig defizitär. Solche Grundstoffe können wir aus der Milch holen. Spezielle Nahrungsmittel (Diätnahrung, Muskelaufbaupräparate, Mineralstoffe für Seniorenernährung) stehen im Fokus! Dazu ist Milch der ideale Grundstoff, wohlschmeckend und reich an Inhaltsstoffen. Da ist viel Innovation in der Pipeline! Daher sehe ich grundsätzlich für die Zukunft des Milchmarktes positive Aussichten!
Die Bevölkerung wächst weltweit, es werden mehr hochwertige Nahrungsbestandteile für die Ernährung gebraucht. Eiweiß zum Beispiel ist häufig defizitär. Solche Grundstoffe können wir aus der Milch holen. Spezielle Nahrungsmittel (Diätnahrung, Muskelaufbaupräparate, Mineralstoffe für Seniorenernährung) stehen im Fokus! Dazu ist Milch der ideale Grundstoff, wohlschmeckend und reich an Inhaltsstoffen. Da ist viel Innovation in der Pipeline! Daher sehe ich grundsätzlich für die Zukunft des Milchmarktes positive Aussichten!
Das Interview führte Gregor Veauthier. -cs-