Warum boomt die Milcherzeugung im Nordwesten Deutschlands und warum schwächelt sie im Süden? Wird der Strukturwandel nach dem Wegfall der Milchquoten jetzt so richtig „losgaloppieren“? Ein Rück- und Ausblick!
Masse zieht Masse an – das Newtonsche Gravitationsgesetz scheint auch auf die Milchproduktion zuzutreffen. Denn Regionen, in denen...
Warum boomt die Milcherzeugung im Nordwesten Deutschlands und warum schwächelt sie im Süden? Wird der Strukturwandel nach dem Wegfall der Milchquoten jetzt so richtig „losgaloppieren“? Ein Rück- und Ausblick!
Masse zieht Masse an – das Newtonsche Gravitationsgesetz scheint auch auf die Milchproduktion zuzutreffen. Denn Regionen, in denen bereits in den 80er-Jahren, vor Einführung der Milchquote, die ersten Boxenlaufställe errichtet wurden, damals in der Regel mit ca. 60 Kuhplätzen (z. B. am Niederrhein und in Schleswig-Holstein), hatten bei Einführung der Milchquoten einen bedeutenden Vorsprung, den sie im Laufe der Jahre genutzt haben – trotz Begrenzung durch die Milchquoten. Der Milch-output in diesen Milchregionen hat stetig zugenommen. Heute gelten diese als die Hotspots der Milchproduktion in Deutschland.
Viele der in diesen Milchregionen ansässigen Betriebsleiter lernten frühzeitig, mit immer größeren Kuhzahlen umzugehen und erfuhren, wie bequem sich die Melkarbeit in den Melkständen mit Vor- und Nachwartehof verrichten lässt. Ähnliches galt auch für die Fütterung von Mais- und Grassilage, sofern Radlader und Futtermischwagen eingesetzt wurden. Vor allem die wachstumsorientierten Betriebsleiter arrangierten sich in den 90ern relativ schnell mit den zunächst teuren Milchquoten, viele kauften im Laufe der Jahre immer wieder („viel zu teure“) Quote zu. Sie spürten, dass trotz der eigentlich „unnützen“ Ausgaben für die Milchquote, „die Festkosten inkl. Quotenkosten stark sinken“, wenn sie auf mehr Milch umgelegt werden konnten. Nach der Wiedervereinigung gewöhnte man sich an immer größere Kuhzahlen. Bis etwa 2005 waren die Baugenehmigungen und Umweltprobleme in aller Regel noch unproblematisch, sodass besonders „auf den grünen Wiesen“ in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen etliche großzügig dimensionierte, komfortable Kuhställe aus dem Boden schossen.
13 Prozent melken mehr als 100 Kühe
Die letzte Bestandserhebung vom November 2014 zeigt, dass von den insgesamt knapp 76.469 Milchviehbetrieben inzwischen 13 Prozent (insgesamt knapp 10.000 Betriebe) mehr als 100 Kühe melken. Allerdings produzieren diese Betriebe mehr als 50 Prozent der deutschen Milch. Auch die Zahl der Großbetriebe (mit mehr als 500 Kühen) steigt laufend an. Derzeit gibt es in ganz Deutschland 478 Milchkuhbetriebe mit mehr als 500 Kühen – das sind zwar nur 0,6 Prozent aller Betriebe, allerdings erzeugen diese wenigen Betriebe mehr als zehn Prozent der deutschen Milch. Unternehmen dieser Größenordnung wirtschaften inzwischen nicht mehr nur in Ostdeutschland, sondern mittlerweile auch in vielen westdeutschen Regionen und vereinzelt in Süddeutschland.
Diese Entwicklung wird sich so oder so ähnlich wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren fortsetzen – allerdings nur dort, wo die Grenzen des Wachstums noch nicht erreicht sind. Alles in allem konzentriert sich die Milchproduktion und Milchverarbeitung im Norden, während im Süden die Molkereien, die ebenfalls kräftig in neue Werke investiert haben, aufpassen müssen, dass ihnen genügend Rohstoff zur Verarbeitung angedient wird. Schon müssen Verarbeiter im Süden auf Milch aus Tschechien oder aus Österreich zurückgreifen.
Im Süden mit „angezogener Handbremse“
In Süddeutschland (Baden-Württemberg und Bayern) startete die oben genannte Entwicklung und Nutzung der technischen Möglichkeiten etwa 20 Jahre später. Das führte dazu, dass die Größenverhältnisse gegenüber dem Norden „um mehr als die Hälfte zurückblieben“ und die Unterschiede im Laufe der Jahre immer weiter auseinander gewachsen sind – von einigen regionalen Ausnahmen abgesehen. In den südlichen Regionen erfolgten und erfolgen auch heute noch meist überschaubare Wachstumsschritte, während im Norden meist deutliche „Wachstumssprünge“ umgesetzt wurden und werden.
Und selbst jetzt, zum Quotenende, glauben viele süddeutsche Milcherzeuger und auch einige Verantwortliche in der Offizialberatung immer noch, mit 60, 80 oder maximal 100 Kühen für die Zukunft ausreichend gewappnet zu sein.
In der Diskussion um die optimale Herdengröße wird im Süden gerne auf die „unerwünschten“ Nebeneffekte der Entwicklung in Norddeutschland hingewiesen: zu groß, zu unübersichtlich, hoch verschuldet („der Ruin der Familie“).
Richtig ist, dass man mit fleischreichen Fleckviehkühen im Vergleich zu den Holsteinkühen weniger Tiere benötigt, da über die Schlachtkuh- und Kälbererlöse ein zusätzlich spürbarer Einkommensbeitrag erzielt wird.
Richtig ist auch, dass die wirtschaftliche Situation in vielen „kleineren“ Milchviehbetrieben recht zufriedenstellend ist. Viele im Süden ansässige Betriebe sind wirtschaftlich gesund, weil sie nicht ausschließlich von der Milch leben, sondern auch mit anderen Betriebszweigen, wie z. B. Bullenmast und Urlaub auf dem Bauernhof, zusätzliches Einkommen erwirtschaften. Zudem halten sich die Ausgaben (Lebenshaltungskosten) gegenüber denen ihrer nördlichen Kollegen in Grenzen (Faustzahl für die Privatentnahmen: 1.000 € je Bodenpunkt), sodass in den letzten Jahren ohne große Investitionen „ein Haufen Geld“ angespart werden konnte.
Kleinere Betriebe benötigen nach Investitionen oftmals 40 Cent
Andererseits jedoch kosten die neuen Kuhställe in Süddeutschland selten weniger als 10.000 Euro je Kuhplatz, sodass ein neuer 60er-Kuhstall mit moderner Melktechnik auf der grünen Wiese eine Million Euro und mehr kostet. Zieht man davon 200.000 bis 300.000 € Eigenkapital und etwa 200.000 bis 250.000 € Fördermittel ab, dann startet ein „rund-erneuerter“ süddeutscher Milchviehbetrieb mit 400.000 bis 500.000 € Fremdkapital in die Zukunft. Umgelegt auf etwa 500.000 kg Milch sind damit je Kilogramm Milch zusätzlich zu den bisherigen allgemeinen Festkosten etwa weitere 20 Cent neue Festkosten als Folge des Neubaus vorprogrammiert. Addiert man dazu 20 Cent Futterkosten, acht Cent sonstige Kosten (Nachzucht usw.) und acht bis zehn Cent für die Arbeitsentlohnung, dann können viele jetzt neu errichtete (kleinere) Milchviehbetriebe – trotz hoher Förderung – nicht unter 40 Cent Milchpreis produzieren. Das sind keine guten Aussichten und der Anreiz, eine Million Euro für die nächsten 20 Jahre „in Beton anzulegen“, ist gering. Sollte der Milchpreis wieder einmal längere Zeit um die 30-Cent-Marke schwanken, dann würde sich die wirtschaftliche Situation der süddeutschen Investoren auch nicht besser darstellen als die der gerne „kritisierten Großbetriebe“ mit deutlich mehr als 100 Kühen im Nordwesten. Etwas günstiger wird die Rechnung bei Neuinvestitionen nur, wenn die Baukosten je Platz möglichst die 5.000-Euro-Marke unterschreiten.
Aufstockung auf 180 Kühe erfordert eine stressstabile Familie
Bei der Beurteilung der „Zukunftschancen“ spielt nicht nur die derzeitige Ausgangslage, sondern auch die angestrebte Zielgröße eine Rolle. Wer von derzeit 50 Kühen auf 80 Kühe wächst, verliert den Überblick nicht so leicht und hat ein überschaubares Risiko. Wer dagegen von 60 auf 180 Kühe wächst und gleichzeitig auch die eigene Nachzucht beibehalten möchte, muss „dreifach wachsen“ – nicht nur bei den Milchkühen, sondern auch beim Jungvieh, den Flächen und auch bei der Arbeitswirtschaft/Organisation. Das erfordert nicht nur einen langen Atem, sondern auch eine „stressstabile Familie“ und verständnisvolle Banken. Kein Wunder, dass der Schritt zum „Durchstarten“ von vielen „kleinen“ Milchkuhbetrieben kritisch hinterfragt wird – auch oder gerade besonders nach dem Ende der Milchquotenregelung.
Die Entscheidung zum Investieren und „Durchstarten“ wird in vielen kleineren Betrieben aber auch dadurch erschwert, dass man nach den teuren Investitionen arbeitsmäßig zwar viel gewinnt, finanziell aber in den ersten Jahren keineswegs deutlich besser dasteht – vor allem immer dann nicht, wenn der Milchpreis gerade einmal wieder unter Druck steht. Mitunter fehlt auch der passende, konfliktarme Standort oder es stehen nicht ausreichend Flächen zur Verfügung. Letztlich werden deshalb auch nur wenige Betriebsleiter im Süden durchstarten.
Im Norden gute Ausgangslage
Anders stellt sich dagegen die Situation in Nordwestdeutschland dar. Hier denken etwa 25 Prozent der Milcherzeuger trotz größerer Schwierigkeiten bei den Baugenehmigungen, zusätzlicher Kosten der Gülleentsorgung (5 bis 15 €/m3) und möglichen Probleme der Arbeitswirtschaft über eine weitere Aufstockung ihrer Kuhbestände nach – sofern der Standort dies ermöglicht. Sie hoffen beim nächsten Aufschwung des Milchpreises rechtzeitig dabei zu sein. Das zeigt, wie stark trotz „30 Jahre Quotendeckel“ die Milchproduktion in Deutschland inzwischen auseinander gewachsen ist und weiter auseinander wächst.
Wer die Praxis, „die Denke“ in spezialisierten Milchviehbetrieben kennt, sieht eher eine Fortsetzung des Wachstumskurses, möglicherweise sogar bis um 20 Prozent – selbst dann, wenn die derzeitigen Milchpreise nicht dazu animieren.
Heute erzeugen in ganz Deutschland, einschließlich Ostdeutschland, etwa 10.000 Milchviehbetriebe mit mehr als 100 Kühen etwa 50 Prozent der deutschen Milch. Schon in einigen Jahren werden es 15.000 Milchkuhbetriebe sein, die dann 75 Prozent der deutschen Milch melken. Allen übrigen Milcherzeugern (66 Prozent!) ist anzuraten, sich nach dem Ende der Quotenbegrenzung zügig zu entscheiden, ob sie die Milchproduktion einstellen oder aber durchstarten wollen. Die Erfahrung lehrt, dass „Nichtstun meist nichts bringt“.