Russland

Milchmangel macht erfinderisch: Käse aus Zement und Seife

Seit den westlichen Sanktionen hat Russland ein Milchproblem: Immer öfter verkaufen Kriminelle mit Kreide, Seife, Backpulver, Kalk oder Zement gestreckte Milchprodukte.

Käse mit Stärke, Kreide oder Seife - in Russland greift manch skrupelloser Hersteller zu allem nur Denkbaren auf der Suche nach einem Ersatz für Milch. Denn die ist wegen der jüngst verlängerten EU-Sanktionen Mangelware im Land. „Es gibt ein Milch-Defizit“, erklärt Wadim Semikin von Institut für Agrarmarktstudien in Moskau. Acht Millionen Tonnen Milch zu wenig waren es seiner Schätzung nach im vergangenen Jahr.

explodierender Hüttenkäse 

Die Nachrichtenseite „Fontanka“ zeigte vergangenen Monat ein gruseliges Experiment: Ein zum Verzehr angebotener Hüttenkäse wurde angezündet und sprang im Topf zunächst wie Popcorn. Dann entwickelte sich ein grauer Rauch, schließlich brannte das Zeug zehn Minuten lang. Der Hüttenkäse enthielt laut „Fontanka“ nicht ein Quäntchen Milch und sei „nur geeignet für Kerosinlampen“.
Der Herstellerbetrieb wurde dicht gemacht, doch das Problem sei systemisch, behauptet Fontanka-Journalistin Wenera Galejewa. Auch die russischen Behörden haben schon im April eingeräumt, dass es immer mehr Produkte zweifelhafter Qualität und immer mehr gefälschten Käse auf dem Markt gibt.

Milch wird gestreckt

Die für landwirtschaftliche Produkte zuständige Aufsichtsbehörde Rosselchosnadsor hatte in einer Erklärung behauptet, dass sowohl große als auch kleine Milchproduzenten diese Praxis verfolgten (Zusatz von Ersatzstoffen wie z.B. Stärke, Kreide, Seife, Backpulver, Kalk oder sogar Zement). Jedoch weigerte sich die Behörde unter Berufung auf rechtliche Bedenken, die Produzenten zu nennen. Sie veröffentlicht seit diesem Jahr eine „Liste der Ehrlichen“: Darauf zu finden sind Firmen, die tatsächlich noch Milch und Sahne bei der Herstellung von Joghurt oder Eis verwenden.
„Die meisten heimischen Hersteller nutzen den mangelnden Wettbewerb voll aus und strengen sich nicht an, gute Produkte zu machen“, kritisiert auch Irina Tichmjanowa von der regierungsunabhängigen Verbraucherorganisation Roscontrol. Die Organisation testete kürzlich 46 Molkereiprodukte - 60 Prozent enthielten.

Mozzarella so begehrt wie einst nur Kaviar

Im Sommer 2014 hat der russische Präsident Wladimir Putin die Einfuhr von EU-Lebensmitteln verboten, die Frist für den Importstopp kürzlich bis Ende 2017 verlängert. Es ist Moskaus Antwort auf die Sanktionen, die der Westen gegen Russland wegen der Ukraine-Krise erlassen hat - was auch für das Käsegeschäft einen riesigen Einschnitt bedeutet: Statt 440.000 Tonnen wie im Jahr 2013 importierte Russland 2015 weniger als die Hälfte. Käse ist jetzt ein knappes Gut; Mozzarella so begehrt wie einst nur Kaviar.
Erstaunlicherweise ist die Zustimmung zu einem Verbot europäischer Produkte in Russland sogar noch gestiegen. In einer Umfrage des unabhängigen Instituts Lewada im Juni sagten 40 Prozent, sie seien für ein solches Verbot. Im März 2015 waren es 21 Prozent gewesen.

Einführung elektronischer Dokumente soll für mehr Transparenz sorgen

Die russischen Molkereiunternehmen wehren sich gegen Vorwürfe, die Milch mit Seife, Kreide oder Gips zu panschen. Sie bezeichneten sie gestern als „unprofessionell und haltungslos“ und forderten eine Untersuchung. Der nationale Milchproduzenten-Verband Sojusmoloko repräsentiert nach eigenen Angaben rund 70 Prozent der Industrie. Man sei „außer sich über solche öffentliche Aussagen“. Sie seien nicht nur „nicht durch Untersuchungen bestätigt, sondern widersprechen auch dem gesunden Menschenverstand“, sagte Danilenko in einer Mitteilung des Verbands. Die Anschuldigungen schädigten den Ruf russischer Milchprodukte und führten zu einem geringeren Konsum der hochqualitativen russischen Produkte, lautet der Vorwurf  er.
Im Zuge von Reformen sollen die Milchverarbeiter auf elektronische Dokumente eingeschworen werden. Damit soll mehr Transparenz auf den Milchmarkt gebracht werden. „Sobald das System eingeführt wird, stellt sich heraus, wie viel Palmöl oder andere „Zutaten“ die Hersteller verwenden“, reklärt Wlassow, der Chef von Rosselchosnadsor.
Indess ist der Import ausländischen Käses nach Russland wieder gestiegen. Erstmalig seit der Einführung des russischen Lebensmittelembargos im Sommer 2014 ist der Import ausländischen Käses wieder gewachsen. Im ersten Quartal 2016 kamen mit 49.300 Tonnen 31 Prozent mehr Käse als im Vorjahreszeitraum nach Russland, berichtet der Kommersant.
In erster Linie stiegen die Einfuhren aus Weißrussland (+ 41 Prozent), Serbien (+ 87 Prozent; 2.100 Tonnen) und Armenien (verdoppelt; nun bei 1.200 Tonnen). Weißrussland bleibt mit 41.800 Tonnen (fast 85 Prozent der Käseimporte) dabei der größte Lieferant. Das gaben der nationale Milchproduzenten-Verband, Sojusmoloko, und das Analysezentrum von Milknews an.

Milchproduktion in Russland wächst wesentlich langsamer

Gleichzeitig sei aber das Produktionstempo für russischen Käse rückläufig, heißt es im Kommersant-Bericht. Das liege in erster Linie an nicht ausreichenden Rohstoffen und einer teilweise unrentablen Produktion. Auch sei die Nachfrage aufgrund der niedrigeren Realeinkommen der Bevölkerung gesunken. Die meisten russischen Verbraucher seien nicht bereit, mehr als 200 bis 250 Rubel (etwa 2,7 bis 3,5 €) für ein Kilo Käse zu zahlen, sagte ein nicht näher genannter russischer Käsehersteller dem Kommersant. 200 Rubel sei aber auch die Verlustgrenze für die Produzenten.
Die landwirtschaftlichen Betriebe in Russland haben nach Angaben des nationalen Statistikdienstes von Januar bis Mai 2016 insgesamt 6,27 Mio. t Milch erzeugt. Das waren 2,8 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die wachsende Produktion resultierte dabei ausschließlich aus der höheren Milchleistung der Kühe, die im Mittel um 4,9 Prozent auf 2.485 kg je Tier anstieg. Der Milchkuhbestand wurde zum Stichtag 1. Juni 2016 von den Moskauer Statistikern mit 3,35 Millionen Tieren angegeben, was innerhalb von zwölf Monaten einer Abnahme von 1,4 Prozent entsprach. Nicht berücksichtigt sind bei diesen Zahlen die „Hofwirtschaften“, die gut 40 Prozent der russischen Rinderhaltung auf sich vereinigen.

Selbstversorgungsgrad liegt bei 81,3 Prozent

Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft lag der Anteil der eigenen Produktion am russischen Markt für Molkereiprodukte 2015 bei 81,3 Prozent. Laut Daten der Nationalen Union der Milchproduzenten (Soyuzmoloko) nahm die Herstellung von Molkereierzeugnissen von Januar bis April 2016 gegenüber der Vorjahresperiode um 3,1 Prozent auf rund 4 Mio. t Milchäquivalent zu. Mitverantwortlich dafür war die Steigerung der Käse- und Quarkerzeugung um 2,8 Prozent auf 457.000 t. Im vergleichbaren Vorjahreszeitraum hatte die Wachstumsrate bei diesen Produkten allerdings noch bei fast 15 Prozent gelegen.
Die russischen Molkereien stellten in den ersten vier Monaten 2016 mit 72.400 t gut vier Prozent weniger Butter und auch acht Prozent weniger Magermilchpulver her. Russischen Marktanalysen zufolge hängt die Verringerung der Pulver- und Buttererzeugung sowie die Verlangsamung des Wachstums bei der Produktion von Käse und Quark mit dem Mangel an Rohmilch in geeigneter Qualität, dem Preiswettbewerb mit den weißrussischen Verarbeitern sowie mit der schwächeren Nachfrage für relativ teure Milchprodukte zusammen.