Brexit: Wohin mit der Milch?

Beim Brexit deutet alles auf einen ungeregelten Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU hin. Sehr schmerzhaft würde ein "No Deal" Irland treffen. Aber auch in Großbritannien sind Verwerfungen in der Milchbranche zu erwarten.

Der spätestens zum 31. Oktober 2019 anstehende Brexit sorgt in der EU-Milchbranche für erhebliche Diskussionen. Die Befürchtungen sind, dass ein ungeregelter Ausstieg ohne vereinbarte Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich (UK) und den EU-Staaten dazu führen wird, dass insbesondere die in der Republik Irland, aber auch die in Nordirland ermolkene Milch nicht mehr so ohne weiteres abgesetzt werden kann. Bislang wird ein Großteil der Milch und Milchprodukte auf der irischen Insel zwischen den beiden Staaten ausgetauscht. Wird diese Möglichkeit unterbunden, werden die Verarbeiter in Irland versuchen, ihre Milchprodukte auf dem europäischen Festland gewinnbringend unterzubringen.
Die Milchfarmer in Großbritannien wiederum befürchten, dass die Milchproduktion im eigenen Land im Vergleich zu Importware zu teuer werden könnte und das Milch aus Nordirland, die bislang in der Republik Irland verarbeitet wird, zusätzlich auf den Markt in Großbritannien drückt. Schon jetzt werde der Brexit im Vereinigten Königreich als Ausrede" benutzt, um die Milchpreise jede Woche weiter zu senken. Viele Landwirte sorgen sich um ihre Existenz.
Es ist schwer, im Wirrwarr von Prognosen und Positionierungen den Überblick zu behalten. Dieser Artikel ist der Versuch einer Bestandsaufnahme und führt zu dem Schluss, dass der vom Journalisten John FitzGerald von The Irish Times kürzlich geäußerte Wunsch wohl ganz treffend ist: Die beste Hoffnung für uns ist, dass sich der Brexit als 'weicher' erweist, als es derzeit wahrscheinlich erscheint."

Ein No-Deal-Brexit wird wahrscheinlicher

Die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Brexit zum 1. November 2019 wird von Tag zu Tag größer. Nach wie vor ist keine klare Absicht zu erkennen, dass das britische Parlament das mit der EU ausgehandelte Austritts- und Übergangsabkommen bis zum 31. Oktober 2019 annimmt. Im Gegenteil: Das Parlament ist im Brexit-Kurs nach wie vor zerstritten und eine Lösung nicht in Sicht. Wirtschafts- und Handelsexperten raten betroffenen Unternehmen daher, sich auf einen ungeregelten Brexit einzustellen.

Wer sieht sich mit was konfrontiert?

UK: Milchfarmer fürchten ein kollabierendes System hier weiter lesen
Nordirland: 800 Mio. Liter Milch werden überflüssig hier weiter lesen
Irland: Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten hier weiter lesen
EU-Festland: Angst vor irischer Butter hier weiter lesen
Der Brexit-Prozess im Kurzüberblick hier weiter lesen
UK: Milchfarmer fürchten ein kollabierendes System
Viele Milchfarmer im Vereinigten Königreich fürchten sich vor einem ungeregelten Brexit und forderten immer wieder die Regierung auf, dafür zu sorgen, dass es nicht zu einem No-Deal-Brexit kommen wird oder eine neue Volksabstimmung über den Austritt abzuhalten. Sie sorgen sich unter anderem darum, dass viel Milch aus Nordirland in den heimischen Markt gedrückt werden könnte. Denn nach einem Brexit können die Nordiren uneingeschränkt nach Irland vermarkten. Etwa ein Drittel des gesamten nordirischen Milchaufkommens (700 bis 800 Mio. Liter) überquert bislang jährlich die innerirische Grenze. Gelangt diese Menge aus Nordirland demnächst auf den britischen Markt, so wird das zum Kollaps des britischen Milchpreises" führen, schätzt Michael Oakes, Vorsitzender des NFU Dairy Board (repräsentiert rund 7.800 Milcherzeuger in England und Wales). Großbritannien verfüge nicht über ausreichende Verarbeitungskapazitäten, um die überschüssige Milch aus Nordirland im Fall eines harten Brexits aufnehmen zu können.
Im Fall eines Brexit dürften deshalb auch die Gewinne der rund 10.000 britischen Milchfarmer sinken. Bislang entfallen rund 40% der Gewinne der Milchfarmen auf die EU-Direktzahlungen. Nach einem Brexit fallen diese spätestens ab 2022 weg. Laut jüngeren Berechnungen können im Falle eines Brexit mit Handelsabkommen die Gewinne der Milcherzeuger um -19%, von 71.000 auf 57.860 GBP (Britische Pfund) sinken. Kommt es jedoch zu einem ungeordneten Brexit (Handel erfolgt dann unter WTO-Bedingungen), wird ein Gewinnrückgang um -24% auf 55.042 GBP prognostiziert.
Neben dem Verlust der Direktzahlungen und sinkenden Milchpreisen, dürften zudem höhere Arbeitskosten anfallen (plus 20.582 GBP/Farm). Denn mit dem Brexit soll die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach EU-Recht nicht mehr bestehen und es sei nicht geplant ähnliche Regelungen einzuführen, die eine weitere Einreise von Arbeitskräften aus der EU sicherstellen würden. Die bisher rund 50% der in der britischen Milchproduktion tätigen europäischen Arbeitskräfte (insb. aus Osteuropa) müssten dann durch teurere britische Arbeiter ersetzt werden - wenn diese überhaupt verfügbar sind.
Im Falle eines No-Deal-Brexit könnte für eine Übergangszeit die Situation entstehen, dass Milchproduktimporte das UK zollfrei erreichen, während Ausfuhren mit hohen Zollsätzen belegt werden. Die zu erwartende Abwertung des Britischen Pfunds im Brexit könnte infolge der auf Abnehmerseite erhobenen WTO-Zollsätze zudem nur langsam in höhere Exporte umgesetzt werden. Dies werde unweigerlich zu sinkenden Milchpreisen für die Milcherzeuger auf der Insel führen. Denn bei Milch als frischem Rohstoff könne eben nicht abgewartet werden, bis sich die Dinge geklärt haben, erklärte John Allen vom britischen Beratungsunternehmen Kite Consulting".
Im schlechtesten Fall kann es zudem dazu kommen, dass das Vereinigte Königreich für alle Importe von Agrarprodukten Zölle erhebt, die unter dem Niveau der für EU-Ware liegen. Das hätte zur Folge, dass die Importe von günstigeren Drittlandsimporten in das UK zunehmen, was wiederum dazu führt, dass die Preise gedrückt werden, die die britischen Landwirte für ihre Produkte erhalten.
Es wird befürchtet, dass viele Landwirte, insbesondere Fleischrinder- und Schafbetriebe, aber auch Milcherzeuger, im Zuge des Brexit ihre Produktion einstellen werden.
Nordirland: 800 Mio. Liter Milch werden überflüssig
Als besonders Brexit-anfällig gilt die Milchbranche Nordirlands, da mit 700 bis 800 Mio. Litern pro Jahr etwa ein Drittel der hier erzeugten Kuhmilch allein in der europäischen Republik Irland verarbeitet wird. Der durchschnittliche Preis für Milch liegt in Nordirland bei rund 26 Pence/l (ca. 28 Cent). Bei einem No-Deal Brexit könnten bis zu 19 Pence Zoll hinzukommen, was den nordirischen Rohstoff mit Kosten von 45 Pence (ca. 49 Cent) für Molkereien im europäischen Irland uninteressant machen würde. Dazu kommt, dass es in Nordirland nicht ausreichend Verarbeitungsstandorte für die Milch gibt. Branchenvertreter erklärten, dass deshalb bis zu 45.000 Kühe (von den derzeit rund 310.700 Milchkühen) in Nordirland aus der Produktion" genommen werden müssten. Solange in Nordirland nicht neue Verarbeitungskapazitäten geschaffen werden, muss der Brexit für die Milchfarmer in Nordirland einem Horror-Szenario gleich kommen.
Irland: Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten
Ein harter Brexit, der Zollschranken zwischen Großbritannien und der grünen Insel wieder erfordert, würde den Milchsektor der Republik Irland hart treffen. Für den Milchmarkt sieht Irland die Folgen eines Brexit nicht ganz so dramatisch wie beim Rindfleisch, denn hier sei der Preisunterschied zwischen dem EU- und dem Weltmarkt nicht so gravierend.
Dennoch wird es Auswirkungen geben, denn das UK ist ein wichtiger Absatzmarkt für irische Milchprodukte. Besonders für Käse und Butter! Die Briten nehmen bei Käse knapp die Hälfte der Exportmenge ab (110.000 t in 2017), bei Butter etwa ein Viertel der Menge (rund 50.000 t in 2017). Fällt UK als Abnehmer (zumindest in Teilen) weg, müssen die Iren neue Absatzmärkte erschließen. Nicht gerade hilfreich dabei ist, dass die irischen Milchprodukte, wie Cheddar-Käse, eher auf Großbritannien als auf den kontinentalen Geschmack" ausgerichtet sind. Dennoch ist die irische Milchbranche zuversichtlich, die Produktlinien zu ändern und neue Märkte zu erschließen.
EU-Festland: Angst vor Irischer Butter
Nach im Juli 2019 veröffentlichten Berechnungen des Braunschweiger Thünen-Instituts würde die deutsche Agrarproduktion jedoch nicht so schwerwiegend getroffen, wie zuvor abgeschätzt (siehe "Brexit-Effekt etwa dreimal so groß wie der des Russland-Embargos!, Bericht vom 10. Berliner Milchforum). Die Wissenschaftler hatten, ausgehend von der am 13. März 2019 von der britischen Regierung vorgelegten Liste von Importzöllen und -quoten, die im Falle eines No-Deal-Brexit in Kraft treten, die Effekte auf die Produktion in Deutschland neu abgeschätzt. Die aufgelisteten Zölle und Quoten würden nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung (MFN) erhoben werden und demnach nicht nur für die EU, sondern für alle Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) gelten. Damit würden die Schutzmaßnahmen der UK deutlich moderater ausfallen als bislang angenommen. Der Liste zufolge sind 87 % der Importe ins Vereinigte Königreich frei von protektionistischen Maßnahmen.
Das Thünen-Institut schätzt aufgrund der Berechnungen, dass die deutsche Agrarproduktion im Fall des harten Brexit in kaum einer Warengruppe mehr als 0,5% zurückgehen würde. Bei Rindfleisch und Milch seien dadurch bedingt sogar leichte Produktionsanstiege von +0,1 – 0,8% zu erwarten.
Kritischer sieht der Präsident des Österreichischen Bauernbunds, Georg Strasser, den Brexit. Er sieht die Ursache des derzeitigen Preisdruckes am europäischen Milchmarkt und insbesondere bei Butter in dem wahrscheinlichen Brexit. Die Märkte kämen unter Druck, weil die Iren ihre Milchprodukte bereits jetzt stärker am EU-Festland anbieten.
Indes rüsten sich auch Lebensmittelhändler und -produzenten gegen einen möglichen No-Deal-Brexit. So scheint das ungeregelte Ausstiegs-Szenario etwa für die deutsche Schwarz-Gruppe (größter Handelskonzern Europas) immer wahrscheinlicher: Lidl habe seine Zulieferer aus Großbritannien darauf hingewiesen, dass sie den Hauptanteil der Kosten des Brexits tragen sollen, zitierte die Lebensmittelzeitung (LZ) einen Bericht aus dem Fachportal Retail Week". Der Discounter soll Zulieferer um eine Bestätigung dafür gebeten haben, dass sie die zu erwartenden Kosten eines No-Deal-Brexits abdecken. Damit versucht er seine Marktmacht gegenüber den Lebensmittelproduzent einzusetzen, um sich selbst vor Zoll-Belastungen zu schützen, schreibt die LZ.
Aber auch die Hersteller stellen sich auf mögliche Konsequenzen ein. Die Molkereigenossenschaft Arla rechnet laut der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mit punktuellen Engpässen" bei Molkereiprodukten auf der Insel. Großbritannien ist im Segment Milch bei vielen Produkten kein Selbstversorger - etwa bei Butter, Käse und Joghurt. Grund für Lieferengpässe könnten mögliche Wartezeiten der Lastwagen an Grenzübergängen, Kursverluste des Pfunds, Handelszölle, zusätzliche Aufwände für Zollerklärungen und einen zusätzlichen Bedarf an Tierärzten für die Überprüfung von Nahrungsmitteln sein. Um die unternehmerischen Folgen des Brexit-Szenarios besser abzuschätzen, habe Arla die London School of Economics damit beauftragt, mögliche Belastungen auszurechnen.
* Der Brexit-Prozess in Kurzübersicht:
  • Am 23. Juni 2016 stimmten die Bürger des Vereinigten Königreichs mit 51,9% zu 48,1% gegen den Verbleib in der EU, dem EU-Binnenmarkt und der existierenden EU-Zollunion.
  • Am 14. November 2018 hatten Unterhändler der EU und des VK verkündet, sich auf einen Entwurf für ein Austrittsabkommen samt Übergangszeitraum geeinigt zu haben. Damit sollte ein ungeregelter Brexit am 29. März 2019 verhindert werden. Am 25. November nahmen die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden EU 27 den Entwurf als geeignet an.
  • Am 15. Januar 2019 lehnte das britische Parlament das Austrittsabkommen mit Mehrheit ab. Eine Annahme des Abkommens bleibt weiterhin möglich.
  • Am 10. April 2019 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-27 und Premierministerin Theresa May auf eine Verschiebung des Brexit-Datums. Der ursprünglich für den 12. April 2019 geplante Austritt war damit aufgehoben.
  • Spätestens am 31. Oktober 2019 wird das Vereinigte Königreich nach aktueller Beschlusslage die Europäische Union und damit den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Die Grundfreiheiten der Warenverkehrs-, Dienstleistungs-, Kapitalverkehrs- sowie Niederlassungsfreiheit finden ab diesem Augenblick keine Anwendung mehr. Das UK erhält den Status eines Drittstaates.
  • Ein früheres Ausscheiden ist möglich, wenn das britische Parlament das mit der EU ausgehandelte Austritts- und Übergangsabkommen vorher annehmen sollte.
  • Die Gefahr eines ungeregelten Brexit, also eines Ausscheidens des Vereinigten Königreiches aus der EU ohne eine vertragliche Regelung, besteht also weiter. Denn sollte das britische Parlament das Abkommen nicht bis Ende Oktober 2019 annehmen, würden der sogenannte harte Brexit" zum 1. November 2019 eintreten.

Quellen: Handelskammer Hamburg, BBC, Farmers Guardian, AgE, The Irish Times, ZMB, Lebensmittelzeitung, Thünen-Institut Braunschweig