Die EU prüft, ob Ökorinder in Deutschland genug Weidegang haben. Eine strengere Auslegung der Vorgaben könnte für manchen Biomilchviehhalter das Aus bedeuten.
Erst war Österreich dran, jetzt läuft in Deutschland ein Prüfverfahren der EU zur Frage: Haben alle raufutterverzehrenden Nutztiere täglich Zugang zu einer Weide? Werden die seit dem Jahr 2000 geltenden Rechtsregelungen zur Öko-Tierhaltung, nach der alle Rinder ab der 16. Lebenswoche Weidegang oder einen Zugang zu einem Auslauf haben müssen, in Deutschland richtig umgesetzt oder werden – wie in Österreich – in der Praxis zu viel Ausnahmen erlaubt?
Müssen Betriebe aus der Ökohaltung aussteigen?
Die deutschen Ökoverbände wie Bioland oder Naturland erwarten die derzeit noch ausstehende Antwort der EU auf diese Fragen mit Sorge, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch Deutschland die bestehenden Weidevorgaben strenger umsetzen muss. Die Verbände befürchten, dass einige ihrer Mitgliedsbetriebe – vor allem im Süden – dadurch Probleme bekommen könnten und in der Folge womöglich sogar wieder aus der Ökorinderhaltung aussteigen müssen. Zum Beispiel, wenn keine oder nicht genügend arrondierte Fläche vorhanden ist. „Die Umsetzung der Weidevorgabe bei den Kühen wird für einzelne Landwirte unmöglich sein. Zum Beispiel aufgrund von Innerortslage, stark befahrenen Straßen oder Wasserschutzgebiete. Diese müssten dann aus Bio ausscheiden“, befürchtet Naturland-Berater Sebastian Wagner. Wie viele Bio-Landwirte davon möglicherweise betroffen sind, weiß derzeit keiner. Fakt ist aber, dass die Verunsicherung gerade auch bei umstellungswilligen Betrieben groß ist.
Die Umsetzung einer Weidevorgabe bei den Kühen wird für einzelne Betriebe unmöglich sein. Diese müssten dann aus Bio ausscheiden.“
Sebastian Wagner, Naturland-Beratung
Deutsche Verbände haben Übergangsfristen
Bisher gab es für solche Betriebe seitens der Ökoverbände noch Kompromisslösungen – z.B. inform von täglichem Auslauf auf einem Laufhof– und Übergangsfristen, bis wann sie den Weidegang nachweisen müssen. So gilt zwar für Bioland-Milchviehhalter generell eine umfangreiche Weidepflicht. Betriebe, die dem Verband aber bereits vor 2018 angehörten, haben für die Umsetzung dieser Weidepflicht noch bis 2030 Zeit. Allerdings hat der Verband nach Aussage von Pressereferent, Leon Mohr, seine Richtlinien in dieser Hinsicht im Jahr 2018 verschärft, so dass z.B. Neubetriebe ohne Weide schon heute nicht mehr aufgenommen werden.
Auch Naturland räumt Altbetrieben bisher noch eine Übergangsfrist bis Ende 2029 ein. Neubetriebe müssen dagegen seit 2021 allen Milchkühen über die gesamte Vegetationszeit Weidegang bieten, wann immer Witterung und Bodenzustand es zulassen. Bis 2021 waren im begründeten Einzelfall auch noch Ausnahmen möglich. Zum Beispiel, aus standortbedingten, strukturellen Gründen wie etwa Innerortslage, Bahnlinien oder aufgrund parallel geltender Rechtsvorschriften aus dem Natur- und Wasserschutzrecht. Seit 2021 gibt es diese Ausnahmen aber nicht mehr.
Sebastian Wagner
Naturland-Beratung
Weidevorschriften von Bioland und Naturland
Bei Bioland müssen die Kühe in der Vegetationsperiode Zugang zu Weideland erhalten. Die Mindestweidefläche beträgt in der gesamten Weidesaison 600 m2 je Großvieheinheit. Wo die örtlichen Gegebenheiten aber die Weidepflicht unmöglich machen, dürfen die Tiere bei Bioland auch im Auslauf gehalten werden. Ein ganzjährig betretbarer Laufhof ist auch zulässig für Rinder bis zu einem Jahr sowie für Mastbullen und Tiergruppen, bei denen kurzzeitig kein Weidegang erzwungen werden kann – das betrifft etwa Kühe vor und nach der Kalbung sowie Besamungstiere.
Bei Naturland müssen Milchkühe zwingend in der Vegetationsperiode auf die Weide. Für Jungtiere besteht die Wahlmöglichkeit zwischen Weide und Laufhof. Der Verband schreibt keine Mindestfläche vor, um der Ertragsfähigkeit der Standorte besser Rechnung zu tragen. Ist die Fläche pro Kuh und Jahr allerdings unter 400 m2 müsse laut Markus Fadl vom Verband grundsätzlich Gras im Stall gefüttert werden.
Keine Ausnahmen mehr?
In Österreich gelten die strengeren Weidevorschriften schon seit Jahresanfang 2022. Anlass für die Verschärfungen war auch hier ein Prüfverfahren der EU, das in der Praxis zu viele Ausnahmen von der Weidepflicht moniert hat. „Die geltende Auslegung der Weidevorgabe sieht keine Ausnahmen vor“, sagt Markus Leitner, Pressesprecher von Bio-Austria. Aktuell hat der Ökoverband noch keine belastbaren Zahlen, wieviel Betriebe aufgrund der Weidepflicht aus der Ökomilcherzeugung aussteigen oder ihren Bestand abstocken müssen.
Die geltende Auslegung der Weidevorgabe sieht keine Ausnahmen vor.“
Markus Leithner, Bio-Austria
Markus Leithner
Pressesprecher Bio-Austria
Denn in Österreich werden Ausnahmen von der Weidepflicht seit 2022 nur noch bei widrigen Witterungsbedingungen, im Winter, wenn der Bodenzustand keine Beweidung erlaubt sowie im Seuchenfall, zugelassen. Diese Ausnahmen müssen betriebsintern aufgezeichnet werden. Sollte das Tier krank oder verletzt sein, kann mit einer schriftlichen Begründung eine weitere Ausnahme beantragt werden. Keine Ausnahme mehr wird aber gemacht, wenn strukturell bedingt keine oder nicht ausreichend Weide vorhanden oder sie schwer erreichbar ist. Auch zu steile Flächen sind künftig kein Grund mehr, nicht weiden zu müssen. Das war bisher in Österreich ein Grund, nicht weiden zu müssen.
Die Knackpunkte in der Praxis
Problematisch – sowohl in Österreich wie auch in Deutschland – könnte eine generelle Weidepflicht aber auch für Höfe mit ausreichend arrondierter Fläche werden. Eine der größten Herausforderung dabei ist die Umsetzung der Weidepflicht bei Jungtieren. Zum Beispiel müssen mehrere Koppeln für Kälber, Jungvieh und Milchkühe eingerichtet werden. Viele Melkroboterbetriebe stehen vor der Schwierigkeit, auch mit Weidegang einen gut funktionierenden Tierverkehr sicherstellen. Der Futterbau wird für alle Betroffenen vor allem in Dürrejahren noch anspruchsvoller als bisher. Hinzu kommen neue Fragen zur Gesunderhaltung der Tiere, wie etwa eine wirksame Parasitenbehandlung der Kälber.
Vor große Probleme sehen sich letztlich auch Öko-Rindermäster gestellt. Nicht nur, dass die Schlachtkörperqualität bei Weidegang wohl noch stärker streut als ohnehin schon, sondern die Herausforderung, Bullen auf der Weide zu halten, ist groß und mit Investitionen und enormem Aufwand verbunden. Viele wären vermutlich gezwungen, auf die Ochsenmast umzusteigen. Zu klären bleibt nicht zuletzt auch die Frage: Wer haftet bei Unfällen, die bei täglichem Weidegang, vor allem mit großen Herden, vermutlich häufiger sein werden?
Welche Lösungen gibt es?
In Österreich sucht man laut Bio-Austria aktuell individuelle Lösungen, um die Biobetriebe in der Milch zu halten. Markus Leithner von Bio-Austria schlägt z.B. vor:
Jungtiere auf Partnerbetriebe, auf Gemeinschaftsweiden oder auf weiter entfernte Flächen zu verbringen. Hofnahe Flächen könnten mit jenen Tieren beweidet werden, die täglich in den Stall müssen.
Eine Änderung der Weidestrategie: Zum Beispiel die Umstellung von Halbtagsweide auf Stundenweide, um dadurch mehr Tierkategorien einen Zugang zur Weide zu ermöglichen.
Zusätzliche Flächen pachten.
Eine verstärkte Beweidung von Ackerflächen im Rahmen der Fruchtfolge oder auch in Kooperation mit anderen Betrieben.
Die Anlage von Übergängen (Brücken) oder Untertunnelungen von Straßen, um Weideflächen für die Tiere zugänglich zu machen.
8 Jahre Übergangszeit nötig
Klar ist: Diese Maßnahmen und die vielen noch ungelösten Fragen zur Weidepflicht brauchen Zeit und machen nicht unerhebliche Investitionen auf den Höfen nötig. Österreich hat bereits zur praktischen Auslegung der EU-Vorgaben einen Runderlass herausgegeben. Darin ist z.B. geregelt, dass über ein Jahr alte Stiere und Ochsen bei Laufstallhaltung mit Auslauf nicht auf die Weide müssen. Der ständige Zugang zum Auslauf ist ausreichend. Auch, dass die Tiere für Routinemaßnahmen wie Fütterung, Melken, Besamung, Abkalbung, Trockenstellen in den Stall dürfen, ist hier festgeschrieben.
Der BÖLW fordert Ausnahmen von der Weidepflicht und eine Übergangszeit von acht Jahren.
(Bildquelle: Lehnert, Silvia )
Auch in Deutschland werden jetzt Forderungen nach einer praxisnahen Auslegung laut: Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, BÖLW plädiert für angemessene Übergangsfristen: „Wenn nun Weidegang im Sinne der neuen EU-Kommissions-Auslegung umgesetzt und die bisher akzeptierte Praxis geändert werden soll, dann sind dafür entsprechend lange Übergangsfristen vorzusehen, damit Betriebe Investitionen abschreiben bzw. sich entsprechend umstellen, entwickeln und neu investieren können. Sachlich notwendig wären dafür mindestens acht Jahre. Für diese Übergangszeit sind individuelle Betriebsberatung und Entwicklungspläne vorzusehen.“
Der BÖLW fordert außerdem zusätzliche Ausnahmen von der Weidepflicht – d.h. Zugang zu befestigten Ausläufen – für männliche Tiere ab einem Alter von 12 Monaten sowie für Aufzuchttiere, wenn es deren Entwicklung und Tiergesundheit erfordert. Auch bei Gefahr von Wolfsrissen müsse eine Ausnahme möglich sein. Sollte Weide aufgrund von Gründen, die der Betrieb nicht zu verantworten hat, unmöglich sein – z.B. durch parallel geltende Naturschutz- und Wasserschutzauflagen – müsse das als unvermeidlicher Hinderungsgrund anerkannt werden.
Wann kommt die Entscheidung der EU?
Aktuell steht die Reaktion der EU auf die deutsche Stellungnahme, die laut einer Sprecherin des BMEL bereits 2021 in Abstimmung mit den Bundesländern erfolgt ist, noch aus. Nicht auszuschließen ist aber wie in Österreich, dass sich die Situation für die Biobetriebe recht schnell verschärfen könnte und sie nur wenig Vorlaufzeit für die praktische Umsetzung erhalten. Schließlich wird auch Deutschland daran interessiert sein, für eine zu laxe Auslegung bestehender Vorgaben keine Strafzahlungen an Brüssel leisten zu müssen.
Weitere Informationen und Tipps zum Neueinstieg in die Weide finden Sie hier.
Kombiniert man Vollweide mit einer Herbst-/Winterabkalbung kann der Weideaufwuchs optimal genutzt und Futter-, Energiekosten sowie Arbeitszeit reduziert werden.