Göttinger Erklärung 2016

Tierärzte fordern Umdenken in der Zucht

In der Fütterung und im täglichen Herdenmanagement stoßen immer mehr Milchviehhalter an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Stoffwechselstörungen und eine Vielzahl von Folgeerkrankungen bei Kühen sind so unausweichlich. Die Selektion auf hochleistende Milchkühe sei deshalb aus tiergesundheitlichen und Tierschutzgründen abzulehnen, forderten kürzlich Tierärzte.

Erkrankungsraten bei milchbetonten Rinderrassen von weit über 50 Prozent und hieraus resultierende hohe Abgangsraten in der ersten Laktation sind sowohl veterinärmedizinisch als auch im Hinblick auf die Akzeptanz durch die Verbraucher, nicht mehr hinzunehmen. Darin waren sich die auf der 16. AVA-Haupttagung in Göttingen anwesenden Tierärztinnen und Tierärzte einig. Es sei dringender Handlungsbedarf angezeigt ist, um diese unerwünschten Entwicklungen in der Tierzucht zu stoppen.
Laut den Veterinärmedizinern steht die Selektion auf Milchleistung im Fokus der deutschen Rinderzucht. Insbesondere würden Besamungsstationen mit dem Zuchtmerkmal „Milchleistung“ für ihre Bullenanpaarungen werden. Eine höhere Milchleistung erfordert jedoch zwingend eine entsprechend höhere Futteraufnahme. Ist dies nicht gewährleistet, verlängert sich die negative Energiebilanz (NEB) der Milchkuh bis weit über 100 Tage nach dem Abkalben. Nicht alle Betriebsleiter sind in der Lage, diese Phase durch qualifizierte Managementmaßnahmen zu kompensieren. Und so stoßen in der Praxis mehr und mehr Milchviehhaltungen an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Stoffwechselstörungen und eine Vielzahl von Folgeerkrankungen sind unausweichlich. Ein solches Ausmaß der negativen Energiebilanz bei hochleistenden Milchkühen sei deshalb aus tiergesundheitlichen und Tierschutzgründen abzulehnen, erklären die Veterinäre in einer Stellungnahme (GÖTTINGER ERKLÄRUNG 2016).

Selektion auf Milchleistung macht Kühe anfällig

Die aus Untersuchungen der Tierzucht bekannten ungünstigen genetischen Korrelationen zwischen Milchleistung und Erkrankungen wie Fettleber/Ketose, Mastitis, Klauen-erkrankungen und Fruchtbarkeitstörungen sowie Belastung durch eine allgemeine Entzündungsreaktion lassen sich in zunehmendem Maße kausal durch die frühen, nicht der Entwicklung des Wiederkäuers angepassten Anforderungen an  hohe Stoffwechselbelastungen der Kühe begründen.
Der aktuell zur Zuchttierbewertung (KB-Bullen, weibliche Rinder) bei Deutschen Holsteins genutzte Gesamtzuchtwert (RZG; relativer Gesamtzuchtwert, Stand: April 2015) räumt der Milchleistung mit fast 50% gegenüber den übrigen Merkmalen (Nutzungsdauer, Exterieur, Fruchtbarkeit etc.) nach wie vor den höchsten Anteil an der Gesamtbewertung aller berücksichtigten Merkmale ein.
Im Vergleich auch zu anderen europäischen Staaten mit bedeutenden Holsteinpopulationen (Frankreich, Skandinavien, Niederlande) wird damit in der Deutschen Holsteinzucht der Milchleistung immer noch eine deutliche höhere Gewichtung als in vergleichbaren anderen europäischen Zuchtprogrammen eingeräumt. Hier bedarf es dringend einer Änderung der Zuchtzielformulierung auf Basis des RZG mit kurzfristig weiterer deutlicher Zunahme der Gewichtsanteile für Nutzungsdauer und Gesundheit. Es sei nicht primäre Aufgabe des Herden-Managements, Fehlentwicklungen in der Tierzucht zu kompensieren. Höchstveranlagte Tiere empfehlen sich deshalb generell nicht für alle Umwelten.
Hellwig

Ernst Günter Hellwig / Foto: AVA (Bildquelle: Elite Magazin)

Da eine Selektion auf Futteraufnahmevermögen – aufgrund einer fehlenden Leistungs-prüfung in praxi – (noch) nicht populationsweit realisiert werden kann, empfiehlt sich vor dem Hintergrund der negativen Energiebilanz (NEB) und der daraus resultierenden Stoffwechselbelastung in der Frühlaktation der Holstein-Rinder kurzfristig die Erfassung der Körpermasse- bzw. Körperkondition.
„Das sind wir den Tieren und dem Verbraucher schuldig. Eine für Mensch und Tier gesunde Milchproduktion muss auch für die breite Masse der Milchproduzenten möglich sein und darf nicht nur wenigen spezialisierten Milchviehbetrieben überlassen werden“, so Ernst-Günther Hellwig, Leiter der Agrar- und Veterinär- Akademie (AVA). Das Kriterium Milchleistung darf nicht das alleinige Hauptkriterium der Zucht sein. Der Anteil der Gesundheitsmerkmale muss dringend erhöht werden. Auch die Beachtung der Nutzungsdauer der Milchkuh bedarf einer höheren Gewichtung, denn gerade die Nutzungsdauer spielt im Rahmen der Wirtschaftlichkeit eine gewichtige Rolle.