Uneingeschränkter Weidegang mit einem automatischen Melksystem ist selten. Familie Stührenberg hat sich der Herausforderung gestellt und gibt ihren Kühen (fast) totale Entscheidungsfreiheit.
Klong – klong, energisch schiebt sich eine Holstein-Kuh durch die Bügel des Selektionstors. Den Blick nach vorne gerichtet eilt sie über den Betonweg....
Uneingeschränkter Weidegang mit einem automatischen Melksystem ist selten. Familie Stührenberg hat sich der Herausforderung gestellt und gibt ihren Kühen (fast) totale Entscheidungsfreiheit.
Klong – klong, energisch schiebt sich eine Holstein-Kuh durch die Bügel des Selektionstors. Den Blick nach vorne gerichtet eilt sie über den Betonweg. Ihr anvisiertes Ziel liegt gute 500 m entfernt: Dreißig schwarzbunte Kühe, die im Kontrast von saftigem Gras und azurblauem Himmel liegen oder grasen. Sie sind nur ein Teil der 130-köpfigen Herde von Ulrike und Bernd Stührenberg auf der Weserhalbinsel Harriersand.
Die übrigen laktierenden Kühe befinden sich demnach gerade im Stallbereich. Entweder melkend in einem der Roboter, fressend am Außenfuttertisch oder im Schatten der mit Tiefboxen ausgestatteten Liegehalle. „Unsere Kühe dürfen frei entscheiden“, sagt Ulrike Stührenberg, „fast alles!“ Sie zwinkert. Von April bis September können die Kühe 24 Stunden am Tag nahezu unbegrenzt weiden. Zusammen mit einem automatischen Melksystem (AMS) eine eher ungewöhnliche Kombination.
Ohne Weideselektionstor geht’s nicht
Für Stührenbergs war genau diese Kombination im Jahr 2015 jedoch die Option der Wahl. „Weidegang bietet sich bei den rund 56 ha arrondiertem Dauergrünland um den Hof einfach an“, sagt Bernd Stührenberg. „Und die Entscheidung auf AMS umzustellen war gefallen.“ Sie wollten tagesaktuelle Zahlen der Kühe und nicht mehr täglich fünf Stunden im alten „technisch minimalistisch ausgerüsteten“ Melkstand stehen. Ihnen wurde allerdings schnell klar, dass freier Weidegang am AMS wohl nur mit einer Weidetorsteuerung funktionieren würde. Alles andere wäre arbeitszeittechnisch entartet: Kühe, die sich auf den bis zu 10 ha großen Weiden vergessen oder sich kurz vor ihrer nächsten Melkzeit noch auf den Weg ins Grün der Wesermarschweiden gemacht haben, immer einzeln zu ihren Melkzeiten reinzutreiben? Unmöglich!
Auf die Weide lässt das Weideselektionstor jetzt alle Kühe, die ein Melkanrecht von bis zu 90% haben. Zurückbleiben müssen Kühe, deren Anrecht höher liegt. Letztere gehen durch ein Texastor seitlich aus der Selektionsbox zurück in den unüberdachten Fressbereich. Die gewählten 80 bis 90% Melkanrecht klingen hoch angesetzt und stehen entgegen der Herstellerempfehlung von 75%. Aber Stührenbergs haben ihre eigenen Erfahrungen gesammelt. Die Kühe begreifen rasch, dass sie nicht raus können, weil sie eigentlich Melken müssten. „Mussten sie dagegen anfangs bei einer niedrigeren Einstellung im Stall bleiben, durften aber nicht melken, weil das Melkanrecht dafür zu gering war, waren sie frustriert und wussten nicht was sie tun sollen“, sagt Ulrike Stührenberg. Sie erinnert sich an die anfänglichen Probleme ihrer Kühe. „Schlimmstenfalls standen sie einfach nur rum“.
Zurück von der Weide in den Stallbereich dürfen die Kühe jederzeit, dorthin gelangen sie ebenfalls durch ein einseitig gelenktes Tor. Genau hier an der Weideschleuse war dann damals in der Umstellungsphase der Punkt erreicht, an dem die Kühe mit ihrem „technischen Verständnis“ an ihre Grenzen kamen. Sie trauten sich nicht hindurch. Die Lösung war im Nachhinein naheliegend. Wie am AMS mussten erst alle einmal durch die geöffneten Tore raus und wieder rein getrieben werden, danach war es gut. „Man hat sich anfangs ein bisschen allein gelassen gefühlt mit der ganzen Technik“, sagt Bernd Stührenberg. Das Betriebsleiterpaar konnte nur wenige Betriebe finden, die Erfahrungen mit dem Grazeway-Selektionstor von Lely hatten, keinen jedoch mit einem 24 h-System. Die Techniker standen vor demselben Problem.
Ausgangssperre zur Hauptarbeitszeit
Die Melkroboter haben Stührenbergs zwar die Bindung an die Melkzeiten abgenommen, feste Stallzeiten sind dennoch gefordert. Diese steuern sie in den Sommermonaten über die Programmierung des Weidetors. Um die Zahl der von der Weide zu holenden Kühe so gering wie möglich zu halten, haben sie zwei Ausgangssperren eingerichtet: Von 4.00 bis 8.00 Uhr und von 16.00 bis 19.00 Uhr dürfen keine Kühe mehr raus. So befindet sich zur morgend- und abendlichen Hauptarbeit der Großteil der Kühe im Stall. Tierkontrolle, Kühe zum Melken nachtreiben, Besamungen, Behandlungen, Trockenstellen und Klauenpflege gehen dann zügig von der Hand. Die Zahl der Kühe, die dennoch zu Fuß von der Umtriebsweide geholt werden muss, sei überschaubar.
Mittags werfen Stührenbergs immer einen Blick auf die Melklisten, sodass absehbar wird, welche Kühe überfällig werden. Das Maximum ist eine Zwischenmelkzeit von 12 Stunden. Diese Kühe werden jedoch nicht direkt in den AMS gestellt. „Wir achten viel mehr auf die Leistung und sehen zu, dass wir die Kühe mit Milchmengen pro Melkung von über 15 kg früher einsammeln“, sagt Bernd Stührenberg.
Über das Selektionstor können sie auch Einzeltiere für den Weidegang sperren. So handhabt das Paar, dass die Frischlaktierenden und Hochleistenden im Herbst aufgrund schwindender Aufwuchsqualität im Stall bleiben. Ansonsten dürfen sie sofort mit raus.
Tags drinnen, nachts draußen
Tagsüber hält sich recht konstant die Hälfte der Herde im Stall auf. Zu den Abendstunden wendet sich das Blatt: „Nachts sind fast zwei Drittel der Kühe draußen. Es geht gerade so, dass der Roboter nicht anrufen muss“, sagt Bernd Stührenberg. Die Auslastung der zwei Astronauten wird dann knapp. Aber das anfängliche „Herumtüfteln“ mit den Steuerungszeiten hat sich gelohnt. Mit im Schnitt 2,7 Melkungen pro Kuh und Tag zur Weidezeit und 2,9 bis 3,1 im Winter, fast ähnlich hohen Verweigerungen und aktuell 1.750 kg verkaufter Milch pro AMS finden sich Stührenbergs in angestrebten Zielbereichen wieder.
Für die guten Laufzeiten sind eine frischmelke Herde – die Laktationstage liegen aktuell im Schnitt bei 170 – sowie gesunde Klauen und Fundamente entscheidend. Ihre aus „extensiven Zeiten“ stammende ausschließliche Frühjahrsabkalbung haben sie mittlerweile fast aufgelöst. Pro Monat wird der Kuhbestand mit drei Zukaufsfärsen ergänzt. Das eigene Jungvieh ziehen sie nicht auf.
Weidekomfort ergänzt Altgebäude
Die Augen müssen sich nach dem gleißenden Sonnenschein zunächst an das Innere in der Liegehalle mit der niedrigen Decke gewöhnen, trotz der weißgetünchten Wände und eingeschalteten Leuchtröhren. Lose verteilt liegen in jeder der vier Tiefboxenreihen wiederkauende Kühe. Rauchschwalben jagen zwitschernd über ihre Köpfe hinweg durch die offenen Tore und Fenster des 1967 erbauten Gebäudes. Obwohl heute, trotz der nur 50 Meter entfernt fließenden Weser, kaum ein Windhauch geht, ist die Luft im Stall überraschend kühl.
1982 wurde das Gebäude entkernt und zum Boxenlaufstall umgebaut. 2015 wurde im Zuge der AMS-Umstellung der innenliegende Futtertisch in eine Doppelreihe Tiefboxen verwandelt und der Futtertisch nach draußen in den unüberdachten Laufhof verlegt. Der Altbau tut seinen Dienst, die Leistung und Aktivität der Kühe sprechen dafür. Einzelne Kühe ziehen den Stall sogar immer der Weide vor. „Gerade haben wir eine dieser Kandidatinnen trocken gestellt. Zweimal mussten wir sie wieder vom Stall wegbringen, weil sie von der Weide ausgebüxt ist“, erzählt Ulrike Stührenberg, sie lacht kurz auf.
„Nur zum Ende vom Winter merkt man, dass die Kühe irgendwie wieder raus müssen“, sagt Bernd Stührenberg. „Es ist einfach ein alter, umgebauter Stall. In einem Neubau sähe das sicher anders aus.“ Ideen zur Optimierung stehen immer an. Jetzt wollen sie Ventilatoren nachrüsten. Vielleicht irgendwann den Dachraum der Liegehalle öffnen? Das Ehepaar diskutiert gerne über Veränderungen.
Fütterung, die große Herausforderung
Die Kuh 978 drückt mit ihrem Bug das Texastor auf, biegt gemächlich rechts ab und läuft hinter den fressenden Kühen her. Sie steuert den Melkroboter am Stalleingang an. Am Computer-Display im Stallbüro rutscht ihre Nummer wieder auf die Liste der im Stall befindlichen Kühe.
Das Weideselektionstor erfasst zwar, welche Kühe sich gerade auf der Weide beziehungsweise im Stall befinden, das Programm kann jedoch nicht die Aufenthaltszeiten der einzelnen Kühe aufzeichnen und speichern. Ein Nachteil, der es unter anderem so gut wie unmöglich macht, etwas über das exakte Futteraufnahmeverhalten der einzelnen Kühe zu erfahren. Denn die Kühe gehen sehr unterschiedlich weiden. Bernd Stührenberg geht davon aus, dass manche Kühe deutlich über 70% ihrer Futteraufnahme über die TMR decken, andere wiederum mehr von der Weide holen. Zudem schwankt das Weideverhalten der gesamten Herde mitunter stark. An manchen Tagen gehen kaum Kühe raus, an anderen fast alle.
„Schwierig zu kalkulieren.“ Und hohe Restfuttermengen sind für Stührenbergs besonders ärgerlich, aufgrund des fehlenden Jungviehs wandern sie direkt auf den Mist. Daher lädt Bernd Stührenberg den Mischwagen lieber etwas knapper. „Mehr als 200 kg Restfutter sollten es nicht sein“, sagt er. Einen Versuch, um die Futtermengen besser zu steuern, starteten sie im Frühjahr 2016, als sie eine für acht Wochen ausgelegte Vorrats-TMR ausprobierten. Der Wunsch, damit flexibler auf die benötigten Futtermengen reagieren zu können, erfüllte sich zwar, doch der Pflegeaufwand für die Anschnittsfläche war arbeitsintensiver und die Nacherwärmungsverluste teurer als gedacht. Also stellen sie wieder auf das tägliche Mischen um.
Auffällig hohe Probleme mit Pansenazidose oder Klauenrehe zeige die Herde nicht. Die einzelnen Kühe selbst haben offenbar eine sehr stabile Aufteilung darüber, wo sie ihr Futter aufnehmen. „Die Daten vom Roboter helfen uns gut dabei, schnell an Problemkühen dran zu sein“, sagt Ulrike Stührenberg.
Etwas Luxus, den man sich leistet
Das Gras steht 10 cm hoch und in einem fetten Grün auf der Weide. Den Kühen stehen 3 bis 6 ha große Stücke Umtriebsweide zur Verfügung. Insgesamt nutzen Stührenbergs von Schnitt zu Schnitt 10 ha als Weide, eine wechselnde Mähnutzung sei wichtig. Wenn der Grasaufwuchs witterungsbedingt einmal geringer ausfällt, bieten sie schon mal die vollen 10 ha am Stück als Standweide an.
Stührenbergs wissen, dass ihr System nicht das günstigste ist, trotz der mit 80 Grünlandpunkten und genügend Bodenwasser idealen Bedingungen für den Aufwuchs. Zumal ihre Molkerei keinen Weidemilchzuschlag zahlt. „Die exakten Kosten und Nutzen für Weide und Stallfütterung mit denen für eine ausschließliche Silagebereitung zu vergleichen, ist nicht einfach“, Falten stehen Bernd Stührenberg auf der Stirn. Bei ihnen spielt als Vorteil des Weideangebots schließlich auch der Effekt des Komforts und der Tiergesundheit im Hinblick auf das Altgebäude mit hinein. „Noch leisten wir uns, dass wir die Kühe frei entscheiden lassen“, sagt er, die Blicke des Paars treffen sich kurz. Sie sind sich einig – für sie ist der Weidegang auch Arbeitsqualität.K. Berkemeier